Neues Album von Aphex Twin: Beats wie Hochgeschwindigkeitszüge
Der Londoner Produzent Richard D. James kehrt nach 13 Jahren triumphal zurück. Das neue Album ist zu 70 Prozent kitschfrei.
„Progrock ist Kitsch. Punk ist kein Kitsch.“ Diese Faustregel hat Irmin Schmidt aufgestellt, des Kitsches vollkommen unverdächtiger Keyboarder der Band Can und stilistischer Vorfahre des britischen Elektronik-Produzenten Richard D. James alias Aphex Twin. Sie gilt weiterhin, gerade auch, wenn Aphex Twin am Freitag sein neues, mit Hochspannung erwartetes Album „Syro“ veröffentlichten wird.
Es ist zu 70 Prozent kitschfrei. Das heißt, die 30 Prozent benutzerfreundliches Geplänkel und Musiklehrer besänftigende, Debussy-artige Pianoetüde mit Vogelgezwitscher am Ende sind sofort verziehen, wenn nach ungefähr 25 Minuten – es handelt sich um den vierten Track mit dem einprägsamen Titel „4 bit 9d api+e+6“ – ein Breakbeat losbrettert, der alle anderen Breakbeats, die es je gab, nach Fußgängerzone klingen lässt.
Und dann prasseln Bleep-Töne und subsonische Basssounds in einem Uptempo, so malerisch und gleichzeitig fundamental beunruhigend, wie sie nur Aphex Twin hinkriegt. In Zeiten, in denen Kitsch auch unter bärtigen Hipstern konsensfähig ist, man denke nur an den Breitwandsound des schottischen Angebers Rustie oder die gefühlig-gesangslastigen Tracks des britischen Postdubstep-Duos SBTRKT, wird Nichtkitsch umso wertvoller. Da kann selbst das Betätigen vom Ausknopf schon ein Akt der Befreiung sein.
Und Aphex Twins Maschinpark stand ja geschäftsschädigend lange still. Deshalb zu behaupten, „Syro“, so heißt sein neues Werk, knüpfe da an, wo „Drukqs“, sein letztes, im Oktober 2001 erschienenes Album aufgehört hat, wäre trotzdem eine glatte Marketinglüge. In den 13 Jahren dazwischen hat elektronische Tanzmusik gleich mehrere kreative Krisen durchlaufen und sich mindestens einmal – per Dubstep – neu erfunden. Währenddessen kam und verschwand die Piratenpartei, ritzten sich Mitglieder von The-Bands flächendeckend Risse in ihre Röhrenjeans.
Aphex Twin: „Syro“ (Warp/Rough Trade)
Richard D. James lötet die Kabel an seinen Synthesizern immer noch selbst und macht Circuit bending, damit die Maschinen so klingen, wie er sie eben klingen lassen mag. Und seine Haare trägt er genauso Schuppen-einladend lang wie auf dem ersten Publicity-Foto, bei dem seine Silhouette zu sehen ist, wie sie in der Londoner U-Bahn eine Treppe hinunterhastet. In London heißt die U-Bahn Underground.
Eigenes Raum-Zeit-Kontinuum
Aphex Twin hat für seinen Sound den gendermäßig reizvollen Begriff „flambient“ geprägt: Flamboyant trifft Ambient. „Wondering if I’m male or female“, hat kürzlich ein Fan getwittert. Auch daher: Tausche 400 The-Bands gegen ein Mixtape von Aphex Twin!
In Tat und Wahrheit war das sogenannte „Hardcore Continuum“, das selbstreferentielle Einflusssystem der britischen Dancefloor-Kultur, an dessen Entstehung Aphex Twin in den frühen Neunzigern entscheidend mitbeteiligt war, außerhalb Englands noch unterentwickelt, als „Drukqs“ erschien. Vom digitalen Heute aus lassen sich die Querverbindungen und Zusammenhänge weit schneller erschließen als noch 2001.
Wenn an vielen Stellen auf „Syro“ Acid-Piano-Sounds aufblinken, kann man sie sofort den Chicago-House-Tracks zuordnen, die Aphex Twin in seinen DJ-Sets –auf Plus 8 am Plattenspieler hochgepitcht – aufgelegt hat. Und man kann sie mit der Postrave-Soundsignatur verbinden, die die Künstler auf Rephlex-Records vereint, dem Label, das James zusammen mit Grant Wilson betreibt. Oder mit dem Ethos von Warp Records, auf dem Aphex Twin von jeher seine eigene Musik veröffentlicht.
Hätte der 138 BPM rasend schnelle und fett wie eine Kerkerwand produzierte Track „fz pseudotimestretch+e+3“, ein Hochgeschwindigkeitszug von einem Breakbeat-Track, auch 2001 erscheinen können? Oder sogar noch früher? Allein die Frage ist unzulässig bei einem Künstler, der in seinem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum unterwegs ist. Der nicht nur die Breakbeats timestretcht, also künstlich in die Länge zieht oder beschleunigt, sondern auch in seinen preisgekrönten Videoclips das Gesicht stets zu einer Grimasse verzieht. Und zwischen August 2012 und August 2014 keinerlei Twitter-Nachrichten geschrieben hat. Nicht zu vergessen, der selbsternannte „analoge Lord“ bewohnt immer noch das ehemalige Bankgebäude in Nordlondon, umgebaut zu einem Elektronik-Fort, in dem er schon in den Neunzigern gehaust hat. Aber am Wochenende geht’s raus aufs Land, zu Debussy.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut