Neuer Roman von Theresia Enzensberger: Gurus gibt es auch auf dem Wasser
Eine Utopie erleidet Schiffbruch mit Zuschauerinnen: Theresia Enzensbergers zweiter Roman „Auf See“ steht auf der Longlist zum Buchpreis.
Jede Suche nach einem Utopia beginnt mit einem Selbstbetrug: dass man die Mängel und Mühen der Zivilisation hinter sich lassen, von vorne beginnen könne. Utopien sind vielleicht so alt wie die Menschheit, aber die Gegenwart hegt dystopische Zukunftserwartungen. Da überrascht es nicht, dass sich in Theresia Enzensbergers Roman „Auf See“ ein utopischer Gegenort in ein dystopisches Gefängnis verwandelt.
Die Seestatt, vor der Küste eines Deutschlands der nahen Zukunft gelegen, wurde als Antwort auf einen dräuenden gesellschaftlichen Kollaps gegründet. Doch der Zufluchtsort entpuppt sich als Sekte, die Arbeiter ausbeutet und um einen Guru zentriert ist. Und es fällt Yada, der Tochter des Sektenführers, zu, die Rebellion gegen den väterlichen Oikos anzuführen.
Enzensbergers gescheitertes Utopia besteht aus einer Reihe von schwimmenden, bienenwabenförmigen Modulen, ist eine Mischung aus „Water World“ und platonischem Bienenstaat, in der die Algen blühen und der Rost an den Behausungen nagt. Die wasserbasierte Subsistenzwirtschaft geht nicht auf, das eigentlich grüne Versprechen scheitert an den Tücken der neoliberalen Subjektkonstitution. Und um jenen Neoliberalismus geht es in diesem konzeptionell starken Roman, der auf drei Erzählebenen operiert.
Yada, deren sprechender Name auf Thailändisch „die Wissende“ bedeutet, tritt als Ich-Erzählerin auf und muss das Rätsel um ihre verstorbene Mutter lösen. Auf der zweiten Ebene berichtet ein personaler Erzähler von Helena, der verschollenen Mutter der Sekte. Diese Ebene befindet sich aus Perspektive der Romangegenwart in der Vergangenheit. Helena ist Künstlerin. Im Grunde ist ihre Sekte ein künstlerisches Experiment, aber die Verheißungen verselbständigen sich. Helena ist ein Kind ihrer Zeit, unserer Gegenwart nämlich, in der alles doppelbödig und ironisch daherkommt.
Theresia Enzensberger: „Auf See“. Hanser Verlag, München 2022. 272 Seiten, 24 Euro
Selbstoptimierung und Himmelreich
Die schöne Pointe besteht darin, dass Helena ihren Sektenmitgliedern Selbstoptimierung als Weg zum irdischen Himmelreich vorschlägt, dass also an die Stelle von verheißungsvollen Schlaraffenländern das hamsterradartige Kreisen um das eigene Ich tritt. Vielleicht darf man sich Helena als eine Schwester Christoph Schlingensiefs denken. Man stelle sich nur vor, Hunderttausende Badegäste hätten sich auf Schlingensiefs Geheiß tatsächlich in den Wolfgangsee gestürzt, um Helmut Kohls Ferienhaus zu fluten.
Auf der dritten Erzählebene spricht ein Archiv zum Leser. Es handelt sich um Helenas Archiv, das eine Vielzahl utopischer Projekte versammelt, die sich allesamt als Schwindel und Betrug entpuppten. Das Archiv berichtet aber auch von dem großen Gründungskongress der neoliberalen Bewegung 1947.
Man benötigt nicht viel Fantasie, um die Seestatt als Parabel auf die neoliberale Ideologie zu lesen, deren Mitbegründer und Ideengeber Friedrich August von Hayek und Ayn Rand heute von ihren Anhängern wie Gurus verehrt werden. Und deren zentrales Versprechen, wonach die Freiheit vom Staat die Freiheit des Subjekts ermöglicht, sich leider im globalen Kapitalismus nicht verwirklicht. Die Seestatt Vineta, ein Plattformkapitalismus im Wortsinn, kann nur durch die Ausbeutung der menschlichen Umwelt aufrechterhalten werden.
Literarische Dystopie
Die Seestatt oder die Luxusjachten der Reichen, die Steuerparadiese ansteuern, sind Sinnbild für den Prozess, den Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest beschreibt: dass die globalen Eliten schon vor Jahren entschieden, sich von der restlichen Welt zu entkoppeln. Weder die Kritik am Neoliberalismus, noch der wohlige Grusel angesichts literarischer Dystopien ist neu. Prominent spielte zuletzt Sibylle Berg mit gleich zwei ziegelsteinschweren Romanen das Angst-Lust-Szenario durch: Ein totalüberwachender Plattformkapitalismus macht die Weltbevölkerung zu ideologiegesättigten Zombies.
Wo bei Berg aber ein sermonartiger Sound die Leser einlullt, schafft Enzensberger erzählerische Distanz, die dem Text guttut. Gerade das Archiv mit seinen Verweisen auf den globalen Finanzkapitalismus, der alte koloniale Strategien durch subtilere Machtformen ergänzt, liefert Motive, die Enzensberger auf den anderen Erzählebenen durchspielen kann. Die Seestatt und all die anderen zeitgenössischen Guru-Utopien müssen niemandem mehr Land abringen. Sie streben nach Autonomie, die auf See verwirklicht wird.
Enzensbergers Szenario ist in der Verquickung der Elemente sehr originell. Auf metafiktionaler Ebene frustriert allerdings etwas, dass zu oft festgestellt wird, statt sichtbar zu machen. Yada hat zudem einen Hang zu Sätzen mit Pseudotiefgang. „Jeder absolvierte Teil meines Stundenplans rückte in eine Vergangenheit, die schon bald nur noch aus Erinnerungen bestehen würde.“ Das hat die Vergangenheit so an sich.
Das könnte dem Roman, sehr zu Unrecht, denn Vorwurf des Midcults einbringen, wie ihn Moritz Baßler gegen die zeitgenössischen Romane aus der Feder jüngerer Autorinnen richtete. Tatsächlich fehlt Enzensberger nur das Vertrauen in den Leser. Der entpuppt sich, schneller als Yada, als der Wissende.
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