piwik no script img

Neuer Roman von Katharina MevissenDer Übermut nach der Schwermut

Katharina Mevissen erzählt von einer Frau, die wuchtvoll altern will. Kurze Sätze, starke Bilder – „Mutters Stimmbruch“ will laut gelesen werden.

Zur Wendung kommt es, als das Haus, mit dem Mutter so eng verschränkt lebt, sie brutal verrät Foto: Mischa Keijser/plainpicture

Mutter heißt einfach nur Mutter. Nichts Genaues weiß man ansonsten über sie, weder ihren Namen noch ihr Alter. Stattdessen erzählt Autorin Katharina Mevissen in ihrem Roman „Mutters Stimmbruch“ von der Protagonistin in Bildern. Mutters Haus und ihre Stimme, ihre Zähne und das Meer unter dem Garten werden zu den Schauplätzen, auf denen sich Mutter den Zumutungen des Alterns stellt, um eine ungewöhnliche Emanzipation zu beginnen.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

In kurzen, oft nur zwei- bis dreiseitigen Szenen, wie dicke Pinselstriche auf einem expressionistischen Landschaftsbild, beschreibt Mevissen eineinhalb Jahre des Lebens einer älteren Frau, die in ihrem Haus am Stadtrand lebt und sich dort hauptsächlich mit ihrem Garten beschäftigt. Sie ist allein, ihre Kinder sind längst ausgezogen, mitteilen tut sie sich eigentlich niemandem mehr. Ihre acht Sprachen – die Körpersprache, die Haussprache, die Gartensprache, vier Fremdsprachen und die Kindersprache – benutzt sie gar nicht mehr oder nur noch selten.

Wie das Haus, durch das sich jetzt Wurzeln bohren und der Herbstwind sich zieht, scheint sich auch die Protagonistin verändert zu haben. „Mutter schlingt die Arme um ihren Brustkorb, presst die Kiefer zusammen, hält sich fest. Es klopft in den Zähnen, in den Gelenken. Mutter weiß: Körper sind nichts Verlässliches. Sie beginnen mit ein paar Behauptungen und vielen Möglichkeiten. Machen erst große Versprechen und dann doch, was sie wollen.“

Der Text ist voller kurzer Hauptsätze. Die besondere Erzählweise der Autorin, das kühle und beständig Klare daran, distanziert die Le­se­r*in­nen von der verschrobenen Mutter. Als solle nichts aufgedrängt, niemand vereinnahmt werden von den innersten Sehnsüchten der sonderbaren Protagonistin.

Der Roman

Katharina Mevissen: „Mutters Stimmbruch“. Wagenbach, Berlin 2023, 112 Seiten, 22 Euro

„Das Haus sagt nichts. Es schweigt aus allen Zimmern und Schränken. Mutter schweigt zurück und schlurft in den Garten. Dort führen die Bäume ein angeregtes Gespräch. Mutter beteiligt sich nicht daran und schneidet die vertrockneten Blütenköpfe aus den Hortensien.“

Wut und Körperkraft

Doch die manchmal fast gleichmütig scheinende Distanz täuscht, dazwischen blitzt eine unaufgeregte und unbeschämte Nähe auf. Dann, wenn Mutter voll Wut und Körperkraft den Garten umgräbt, wenn sie zu den Börsenzahlen masturbiert oder in der Badewanne Brustschwimmen geht.

Zur Wendung kommt es, als das Haus, mit dem Mutter so eng verschränkt lebt, sie brutal verrät. Die Heizung fällt aus, die Wasserrohre brechen, und Mutter schlägt sich im Trubel treppab ihre Vorderzähne aus. So kann es für Mutter nicht mehr weitergehen. Sie lässt sich ihre Zähne ziehen und zieht aus dem Haus aus und in eine Wohnung in der Stadt.

Mutters Zähne, von den Milchzähnen bis zu den Zahnwurzeln und den Dritten, dienen über den nur 112-seitigen Roman dabei als Motiv der Ver- und Entwurzelung. Immer wieder tauchen sie auf, auch in den sieben Illustrationen von Katharina Greeven.

Ich kann dich hören

„Mutters Stimmbruch“ ist bereits der zweite Roman der 1991 geborenen Katharina Mevissen. Ihr Debüt feierte sie 2019 mit „Ich kann dich hören“, das den Kranichsteiner Literaturförderpreis gewann und vom WDR als Hörspiel adaptiert wurde. Parallel arbeitet die Autorin außerdem an der Freien Universität Berlin an ihrer Promotion über literarische Mündlichkeit. Und dieses gelungene Bemühen nach Mündlichkeit merkt man Katharina Mevissens Roman an. Die kurzen Sätze, die starken Bilder, „Mutters Stimmbruch“ will laut gelesen werden.

Weil Mutter sich weigert hinzunehmen, was ist, bäumt sie sich auf gegen ihre inneren Zustände und die externen Zuschreibungen. „Mutter braucht Platz. Ohne sagen zu können wofür.“ Ihr Kehlkopf wächst, ihre Stimme wird tiefer, der Stimmbruch. Ein Wandel vollzieht sich, aus der alternden Frau im alten Haus scheint ein pubertierendes Wesen in der Stadt zu werden, das Alter und Gender abstreift, um frech und übermütig zu sein.

Von nun an verliert die Figur nach und nach ihre Schwere. Beginnt eine lustvolle Affäre mit der Stimme von der Telefonauskunft. Im Schwimmbad schwimmt Mutter oben ohne und duscht in der Männerumkleide: „Mutter will nicht festgehalten werden. Sie streift die Träger von den Schultern, lässt sich frei, atmet durch. Ihre Brüste schwimmen davon, und Mutter treibt auf dem Rücken. Sie öffnet den Mund, lässt das Meer hereinströmen – es schmeckt beißend nach Chlor.“

Im Zentrum des eigenen Lebens

„Mutters Stimmbruch“ ist ein Roman über das Altern. Und doch ist er nicht so, wie man denken könnte – entlang bekannter Erzählungen, um Akzeptanz und Gewöhnung an die unwiderrufliche Veränderung bemüht. Altern wird bei Mevissen nicht zur Verdammnis. Ohne zu bemitleiden, wird stattdessen mit Leichtigkeit und Witz von der Sonderbarkeit des Altwerdens erzählt.

Viel wurde in den letzten Jahren zur Unsichtbarkeit von Frauen in und nach den Wechseljahren geschrieben. Wenig hat sich an ihrer Sichtbarkeit bisher getan. Die Themensetzung des Romans und Mutters Verwandlung selbst stellen hingegen Mutter – und damit Mütter insgesamt – kompromisslos ins Zentrum ihres eigenen Lebens. Und lassen Mutter so ungeahnt zum Vorbild werden. Denn, „Mutter ist ihr eigener Mittelpunkt. Und die Zähne im Bad sind die Peripherie.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!