Neuer NDR-Talk „Bürgerparlament“: Gutes Reality-TV
Bei der NDR-Talkshow „Bürgerparlament“ diskutieren normale Bürger*innen. Das bringt zwar wenig neue Inhalte, aber dafür wichtige Sichtbarkeit.
Nicht ein einziges Mal muss Ingo Zamperoni „ORDEEER“ rufen. Im ersten „Bürgerparlament“ vom NDR, das optisch dem britischen Unterhaus nachempfunden ist, geht es nicht besonders hitzig zu. Hier sollen Bürger*innen miteinander ins Gespräch kommen. Eine „Diskussion auf Augenhöhe“ ist angekündigt und weiter: „Bürgerinnen und Bürger diskutieren miteinander, ohne Expertinnen, ohne Politiker, mit Argumenten statt mit Polemik, scharf, aber respektvoll.“
Warum das Hamburger Studio, in dem schon am Samstag die erste Sendung aufgezeichnet wurde, dem britischen Parlament nachempfunden ist, wird nicht klar. Vermutlich, weil der Ort bei Social Media für seine lebhaften Diskussionen bekannt ist, die nur durch regelmäßige „Order“-Rufe der Sprecher zur Ruhe gebracht werden.
Immer wieder heißt es in der öffentlichen Debatte, die Bürger*innen hätten zu wenig Raum im Programm der Öffentlich-Rechtlichen. Das Bürgerparlament ist nun einer von mehreren Versuchen, da etwas dagegenzusetzen. Um daran teilzunehmen, konnte man sich im Vorhinein bewerben, ausgewählt wurden rund 20 Menschen. Und so diskutierten dann in der ersten Sendung unter anderem eine 29-jährige Soldatin mit einem 72-jährigen ehemaligen Geschäftsführer und einem 33-jährigen Wollproduzenten.
Das Thema ist angesichts der Energie- und Klimakrise aktuell gesetzt, es geht um Verzicht. Müssen wir mehr verzichten? Wie vertrauenswürdig ist die Regierung in diesen Krisenzeiten? Und sind die Lasten aktuell gerecht verteilt in der Gesellschaft?
„Das Bürgerparlament“, die erste Sendung „Verzicht, nicht mit mir!“, ist in der ARD-Mediathek anzusehen. Die nächste Folge läuft am Dienstag, 15. November, 21 Uhr, im NDR
Schnelle Entgegnungen auf steile Thesen
In der ersten Frage sind sich die zwanzig Bürger*innen relativ einig: „Ja, wir müssen mehr verzichten.“ Auf was genau, wer und ob das auf freiwilliger Basis oder durch staatliche Regelungen passieren soll, da gehen die Meinungen dann schon auseinander.
Während der Pastor (57 Jahre) zu einer „Kultur des Verzichts“ aufruft, möchte der 59-jährige Lkw-Fahrer staatliche Regeln und mehr Kontrollen. Während der Wollproduzent zur Lektüre von Thomas Piketty rät, mahnt die 20-jährige Studentin, dass wir nicht über individuellen Verzicht, sondern über das System sprechen müssen. Das Gespräch bleibt respektvoll, auf besonders steile Thesen gibt es schnelle Entgegnungen.
Ingo Zamperoni, bekannt als „Tagesthemen“-Moderator, versucht mit stichelnden Fragen und Umfragen im Publikum etwas Schwung in die Diskussion zu bringen. Was vor allem beim Thema Weihnachtsbeleuchtung überraschend gut funktioniert.
Wirklich konstruktiv ist die Diskussion jedoch am Ende nicht. Statt miteinander zu reden, scheint es, dass die Beteiligten reihum ihren einminütigen Vortrag mit dem einen Punkt, den sie machen möchten, auswendig gelernt vortragen. Darin unterscheidet sich das Bürgerparlament aber auch nicht wirklich von einer Lanz- oder Anne-Will-Sendung. Statt Politiker*innen-Statements gibt es nun Statements geschmückt mit persönlichen Anekdoten vom Spielplatz oder dem Arbeitsplatz.
Doch vielleicht kann eine gehaltvolle Debatte, die neue Impulse setzt, auch gar nicht das Ziel eines Bürgerparlaments sein. Denn mit der einminütigen Begrenzung der Redebeiträge bleibt die Sendung zwar kurzweilig, wird aber auch beliebig. Was das Bürgerparlament stattdessen leisten kann, ist gutes Reality-TV. Also den Zuschauer*innen zu Hause das Gefühl geben: Hey, das da im Fernsehen könnte ich sein. Und die Macht von Repräsentation sollte man nicht unterschätzen.
Hitzig wird es dann vielleicht in der nächsten Woche. Da soll es dann um unser aller Lieblingsthema, das Gendern, gehen. Vielleicht darf Ingo Zamperoni dann auch endlich „ORDEEER“ rufen.
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