Thriller „The Innocents“ im Kino: Kleiner Kinder Spiele

In Eskil Vogts perfide fesselndem „The Innocents“ zeigen sich Schutzbefohlene von einer unheimlich mächtigen Seite. Ein Kinderfilm ist es nicht.

Ida und Ben schauen hinter einer Mauer aus Ziegeln hervor.

Wollen sie nur spielen? Ida (Rakel Lenora Fløttum) und Ben (Sam Ashraf) in „The Innocents“ Foto: Capelight Pictures

Man mag dieses Mädchen nicht. Ida (Rakel Lenora Fløttum) ist gerade mal im Grundschulalter, aber von einer Gemeinheit, die ihresgleichen sucht. Der Film hat kaum begonnen, sie ist mit ihrer Familie auf dem Weg in die neue Wohnung in einem Hochhauskomplex, da kneift sie ihre ältere Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) gezielt in den Oberschenkel. Die Schwester macht sich lediglich durch eine Art Stöhnen bemerkbar, das nach einem vor sich hin brabbelnden Kleinkind klingt, zeigt jedoch keine erkennbare Reaktion, dass sie Schmerz empfindet.

Dass sie den sehr wohl fühlen, dies aber nicht zum Ausdruck bringen kann, erfährt man im Spielfilm „The Innocents“ des norwegischen Regisseurs und Drehbuchautors Eskil Vogt in einer der nächsten Szenen. Anna ist autistisch, erzählen die Eltern beim Besuch einer neuen Therapiegruppe. Früher hat sie gesprochen, dann immer weniger, jetzt kommen bloß Vokale aus ihrem Mund.

Idas Verhalten ist aber nicht einfach auf einen schlechten Charakter zurückzuführen, sondern, auch das erfährt man bald darauf, könnte Zeichen dafür sein, dass sie sich überfordert sieht. Sie muss oft die Verantwortung für ihre große Schwester übernehmen, etwa wenn sie gemeinsam ohne die Eltern nach draußen gehen. Ida hat ein Mobiltelefon, damit sie erreichbar ist und sich melden kann. Anna, obwohl fast eine Jugendliche, könnte damit nichts anfangen.

In der neuen Siedlung ist wenig los, es sind Schulferien, viele Familien im Urlaub. Ida erkundet die Gegend mit ihrer Schwester, begegnet einem Jungen, der mit den anderen Kindern vom Spielplatz wenig zu tun zu haben scheint. Mit Ben (Sam Ashraf) erkundet Ida das Waldgebiet um die Betonbauten, er zeigt ihr einen Trick. So ganz verstehen Ida und das Publikum nicht, worin der besteht, doch wenn Ida vor Bens Augen einen Stein herabfallen lässt, ändert der auf halber Strecke plötzlich seine Flugbahn und fliegt seitlich weg, wird zum Geschoss.

„The Innocents“. Regie: Eskil Vogt. Mit Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Mina Yasmin Bremseth Asheim, Sam Ashraf u. a. Norwegen 2021, 117 Min.

Superhelden der etwas anderen Art

Ben ist nicht das einzige Kind in der Nachbarschaft mit sonderbaren Fähigkeiten. Auch Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), ein stilles Mädchen mit auffälligen Pigmentstörungen im Gesicht, ist anders. Sie hört andere Leute, die nicht da sind. Was normalerweise auf die Diagnose Schizophrenie hinausliefe, ist bei Aisha aber vielmehr eine große Empfänglichkeit.

Wenn sie nachts im Bett liegt, horcht sie auf die anderen in den Hochhäusern, der Blick der Kamera schwebt dazu suchend aus dem Fenster hinaus, fährt die grauen Fassaden ab. Man könnte an die berühmte Szene mit den Engeln in Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ denken, die schützend auf Sendung mit den Bewohnern der Mauerstadt gehen. Auf kitschige Ideen kommt Eskil Vogt in seiner Geschichte allerdings nicht.

Vielmehr findet „The Innocents“ mit der Idee der telekinetischen und -pathischen Begabung seiner Protagonisten einen eigenen Dreh für das Thema Außenseiter. Vogt deutet es eher an, doch neben der Autistin Anna sind Ben und Aisha als nicht norwegischstämmige Kinder ebenfalls Teil einer Minderheit auf dem Block. Sie behaupten sich als minderjährige Superhelden der etwas anderen Art. Und Superschurken. Harmlos schrullig geht es eindeutig nicht zu.

Schon durch seine schleichenden Kamerabewegungen und die unaufdringlich dräuende Musik erzeugt „The Innocents“ stets eine Stimmung von nahendem Unheil. Das lässt im Film nicht allzu lange auf sich warten. Was Ben und Ida etwa beim Spielen mit einer Katze anstellen, es ist Aishas entlaufene Katze, was die beiden jedoch nicht wissen, ist nicht allein für Tierfreunde kaum zu ertragen. Bei der Gewalt gegen Tiere wird es nicht bleiben.

Irgendwann bilden sich zwei Fraktionen, die sich gegenseitig bekämpfen. Denn Anna kann mit Aishas Hilfe kommunizieren, ihre Kräfte ergänzen sich. Ida, die anfangs wenig vorteilhaft gezeichnet war, durchläuft dabei eine Wandlung.

Anders begabte Kinder

Bei dem grausamen Spiel mit der Katze, das an dieser Stelle nicht näher beschreiben werden soll, merkt sie, dass Schluss mit lustig ist. Wird sich der eigenen Schuld bewusst und entscheidet sich für eine Seite im Kampf der anders begabten Kinder. Sie ist übrigens die Einzige im Quartett, die keine erkennbaren Superkräfte hat. Was sie keinesfalls kampflos macht.

„The Innocents“ ist einerseits ein perfider Film, weil er einen in eine Kinderwelt entführt, die man in all ihren Dimensionen gar nicht unbedingt kennenlernen möchte. Andererseits ist er klar eine Allegorie, erzählt von Stimmen, die sich auf „normalem“ Weg kein Gehör verschaffen würden, ohne dass Vogt sich in Versöhnlichkeitsduselei verliert.

Ein bisschen erinnert das an den grandiosen schwedischen Fantasy-Film „Border“ von Ali Abbasi über zwei höchst ungewöhnliche Außenseiter. Und bei Vogt verkörpern die jungen Darsteller ihre seltsamen Rollen so überzeugend, dass man ihnen einfach gebannt zusieht. Selbst wenn man manchmal wegschauen möchte.

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