piwik no script img

Neuer Intendant am Schauspiel KölnDer Apokalypse entgegenschwanken

Mit „Imagine“, einem ästhetisch grandiosen Weltenwimmelbild aus Rausch und Abgrun d, eröffnet Kay Voges seine Schauspielintendanz in Köln.

Alltag und Unheil, Banalität und Böses wechseln sich in den Szenen ab Foto: Marcel Urlaub

Der Song „Imagine“ von John Lennon und Yoko Ono besingt eine vereinte Welt ohne Staaten, Grenzen und Religionen und wird bei so ziemlich jeder vorstellbaren Gedenkveranstaltung gesungen: eine Friedenshymne, die zum Schlager geworden ist. Das Kraftvolle daran ist vermutlich, dass sie zu Visionen, zu welchen auch immer, aufruft.

Auch Kay Voges hat den Eröffnungsabend seiner neuen Schauspielintendanz in Köln „Imagine“ genannt. Gesprochen wird hier kein einziges Wort. Ein ganzes Dorf steht da auf der Bühne, mit Holzhäuschen, Straßenlaternen und einer Kirche, aus der es warm von innen leuchtet. Zwei riesige Bildschirme hängen da­rü­ber, um farbverstärkt die verborgenen Ecken des pittoresken Städtchens zu zeigen. Stoisch gleitet eine Roboterkamera auf Schienen rundherum, verändert nie die Geschwindigkeit, öffnet immer wieder die gleichen Bühnenräume – ein ewiger Kreislauf. Dreimal scheint hier ein neuer Tag zu den hymnisch-wehmütigen Klängen von The Cures Song „Alone“ zu beginnen.

Einsamkeit, Entfremdung, eine unbestimmte Bedrohung sprechen auch aus den betörend schönen Szenenbildern (Pia Maria Mackert), die von Künstlern wie Edward Hopper oder Gregory Crewdson inspiriert scheinen. Immer beginnt der Tag im gleichen düsteren Zimmer mit Mustertapete und Doppelbett. Eine Frau geht zur Arbeit. Ein Mann sitzt auf dem Bett mit irrem Blick, mit Messer und in Schlachterschürze. Eine Frau befühlt ihre Brüste und weint. Zwei Männer haben gerade Sex gehabt, der eine bezahlt den anderen. Ein Mann wiegt ein Baby, ein anderer fällt auf dem Gehweg tot um – doch niemand hilft ihm, bedeckt ihn nur mit einer Plastikplane. Immer wieder finden sich aber auch Gruppen zusammen, treffen sich in der Kirche, singen ergriffen ­Leonard Cohens hymnischen Song „Who by Fire“.

Eine genau getaktete Choreografie lässt immer neue Miniszenen entstehen, die sich nur im Kopf des Zuschauers zu einer Geschichte zusammensetzen. Oder eben nicht. Wer schreibt welche Geschichte, ist von welchem Schicksal getroffen, und wer entscheidet das? Alltag und Unheil, Banalität und Böses wechseln sich in den Szenen ab und erzählen zugleich immer von rastloser menschlicher Sinnsuche, Verzweiflung oder Glück. Am zweiten Tag ersteht der Tote wieder auf, wird als halb nackte Jesusfigur mit Blumenkranz in der Kirche gefeiert. Bis das Ganze zur absurden Orgie wird. Zu Beats von Stromae tanzen sie dann eine ekstatische Choreografie: Im Rausch wird alles eins, der Mensch will vergessen, während auf den Bildschirmen Störungen erscheinen, KI-generierte Verfremdungen, Gruselbilder.

Eine Frau geht zur Arbeit. Ein Mann sitzt auf dem Bett mit irrem Blick, mit Messer und in Schlachterschürze

Und dann kippt es bei der dritten Tageswiederholung ins vollends Dystopische, sieht die Frau im Büro aus wie eine Lageraufseherin, zückt ein Mann die Kreissäge, wird gefoltert, geblutet, zombiehaft zu grell zuckenden Lichtern und Klängen getanzt. Immer martialischer werden die Waffen, wächst die Gewalt. Bis am Ende ein altes Disney-Schneewittchen „Imagine“ anstimmt, den großen Utopieschlager. Sie isst dazu einen Apfel – der vorher wie ein Leitmotiv durch die Szenen geisterte, als Apfelsaft-Tetrapak oder Apfelmus: der Ursprung der Erkenntnis, Abgrund und Heilung zugleich.

Am Ende des opulenten Bildersturms von Kay Voges scheint als Fazit mal wieder übrigzubleiben, wie der Mensch in Dummheit und Destruktion der Apokalypse entgegenschwankt. Ein großes Weltenwimmelbild liefert er da ab, einen Menschheitsentwurf, der von Rausch und Abgrund, von KI und Popkultur erzählt: Die oft überraschenden, unheimlichen, surrealen Bilder setzt sich der Zuschauer selbst zur Geschichte zusammen, kann im Kopf sein eigenes Universum kreieren. „Imagine“ eben.

Vom Stil her erinnert das stark an Voges’ „Borderline Prozession“, mit der er einst zum Berliner Theatertreffen eingeladen und in Theaterkreisen berühmt wurde, nur eben ohne Textschnipsel. Ein ästhetisch grandioses Unterfangen ist das. Beeindruckend auch, mit welcher Perfektion und präzisen Schönheit das neue Ensemble agiert: Ganze 19 Schauspieler stellen sich hier in Großaufnahmen dem Kölner Publikum vor, müssen jede Geste präzise timen. Und doch wirkt der Abend am Ende irgendwie banal, fast musicalhaft in seinem ganzen Riesenaufwand. Letztlich ist das, was hier „Welttheater“ genannt wird, doch nur eine weitere dystopische Bestandsaufnahme im daran nicht armen Kulturbetrieb.

Allerdings kann man sicher sein: Kay Voges hat noch andere Kunst-Erzählungen auf Lager – etwa mit seinem spannenden neuen Schwerpunkt „Theater und Journalismus“, der engen Zusammenarbeit mit der Correctiv-Redaktion. Und so will man ihm einfach viel Erfolg wünschen zum Auftakt der neuen Intendanz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare