Neuer Horrorfilm aus Brasilien: Es ist Vollmond, gib mir ein Steak
Kann man mit magischem Realismus die Themen Gender, Toleranz und Klassismus verhandeln? Der Film „Gute Manieren“ versucht es.
Ana (Marjorie Estiano) ist reich, weiß und schwanger. Sie lebt vom Geld einer Familie, die sie verstoßen hat, in einem stromlinienförmigen Hochhausviertel São Paulos, vermisst ihr Reitpferd und turnt vor dem Fernseher eifrig Aerobicübungen nach. Clara (Isabél Zuaa) ist arm, schwarz und arbeitslos. Sie hat Probleme, die Miete für das schmuddelige Vorstadtloch aufzubringen, in dem die voluminöse Vermieterin Dona Amélia (Cida Moreira) auf einem mit Zierdeckchen geschmückten Klavier klimpert und Clara mächtig Schuldendruck macht.
„Ich brauche jemanden, der hier wohnt, bis das Baby da ist“, erklärt Ana der Jobaspirantin Clara beim Vorstellungsgespräch. So finden die ungleichen Frauen zusammen: Die zurückhaltende Clara zieht in Anas großzügiges, minimalistisches Loft und umsorgt die Schwangere als Haushaltshilfe. Zwischen den beiden entwickelt sich erst ein Arbeitsverhältnis, dann eine Freundschaft, später eine leidenschaftliche Liebesbeziehung.
Doch irgendetwas an Ana stimmt nicht: Sie kauft kiloweise blutiges Fleisch und stopft es in den Kühlschrank. Bei Vollmond schläft sie schlecht oder schlafwandelt. An den Vater des Kindes kann sie sich kaum erinnern – nach einer einzigen Liebesnacht im Auto verschwand er; am Morgen, so Ana, saß ein „wildes Tier“ an seiner Stelle. Irgendwann verfolgt Clara ihre somnambule Freundin bis auf die Straße. Dort lockt Ana eine streunende Katze an, nimmt sie auf den Arm, dreht ihr den Hals um und frisst sie. Und das Blut tropft auf den Babybauch.
Was später aus diesem Bauch herauskommt, und vor allem wie, sollte man auch aus Spoilergründen vielleicht besser hier ungesagt lassen. Selbst wenn die profunden Hinweise – Vollmond, Fleischlust, wildes Tier – sogar Genreunkundigen reichen sollten. Die Mutter Ana, so viel sei gesagt, überlebt die Geburt jedenfalls nicht.
Mehr als ein Genrefilm
Doch dass das eigenwillige Horrorwerk des brasilianischen Regie- und Drehbuchduos Marco Dutra und Juliana Rojas mehr sein möchte als ein klassischer Genrefilm, wird schon anhand der Konstellation klar: In seinem grotesk-komischen, mit Magischem Realismus versetzten Plot kommentiert es die Themen Gender und Toleranz genauso wie die Situation von Arm und Reich in Brasilien, einem von Rassismus und strikten Klassenunterschieden gezeichneten Land.
Und es setzt ein Statement – für die Liebe, egal zu wem oder was, ob gleichgeschlechtlich, ob überhaupt menschlich: Nach einem Zeitsprung ist die Frucht aus Anas Leib zu etwas Ungewöhnlichem, einem Siebenjährigen namens Joel herangewachsen und lebt mit seiner fürsorglichen Ziehmutter Clara wieder in der Vorstadtbude.
Genau da macht Dutras und Rojas’ mit zauberhafter, an Henry Mancini erinnernder Musik unterlegter Film einen Schwenk, und entwickelt sich zu einer Coming-of-Age-Geschichte. Denn Joel, der (meistens) aussieht wie ein kleiner Junge, will nicht mehr bei Vollmond zu Hause angekettet werden und macht gemeinsam mit Schulfreund Maurizio die Biege. „Keine Angst, wenn sie Hunger kriegen, kommen sie schon nach Hause“, beruhigt Maurizios Vater die aufgebrachte Clara. Aber das ist ja das Problem, möchte man dem nichtsahnenden Mann zurufen, Joel hat Hunger. Und es ist Vollmond!
Vor allem der Coming-of-Age-Teil des Films bewegt sich rasant durch die Filmkategorien, dippt mal in ein Pubertätsdrama, mal in die Komödie, holt sich ideelle Inspirationen bei „Rosemary’s Baby“, bei Ali Abassis 2016 im Rahmen der Berlinale aufgeführten, großartigen nordischen Gothic Tale „Shelley“ oder dem letzten „Twilight“-Teil (auch da sorgt sich die Protagonistin um ihren kleinen Bastard aus Wesen und Mensch) und mixt surreale Fantasy-Credits und Musicalsituationen: Plötzlich singt Clara, richtig gut sogar, sie singt sich auf dem Weg nach Hause an einer ebenfalls singenden Obdachlosen vorbei.
Der Werwolf ist auf dem Vormarsch
„Folge den Brotkrumen, die ich zurückließ“, schmachtet sie, ,,komm nach Haus, mein Liebling.“ Begleitet wird sie natürlich von Dona Amélia am Klavier. Dabei ist die Matrone nicht ganz unschuldig am ganzen Schlamassel: Sie hatte dem kleinen Joel sein erstes Steak kredenzt. Und das, so impliziert es der Film in seiner nicht unbedingt immer nachvollziehbaren oder dramaturgisch durchdachten Logik, hatte dessen Hunger quasi erst angefacht.
Horrorfilme und ihr Subgenre Werwolfgeschichten sind seit Jahrzehnten keine eingleisigen, auf Schreck, Splatter oder Ekelreaktionen setzenden Trashkracher mehr, so lieb man das unterhaltsame Genre als Nerd auch gewonnen hat.
Das zeigte in diesem Jahr etwa „Wildling“, ein bislang nur in den USA veröffentlichtes, atmosphärisches Coming-of-Age-Fantasy-Drama mit Brad Dourif und Liv Tyler, in dem die pubertäre Verwandlung des Mädchens Anna in einen Werwolf, ähnlich der Thematik in Mike Nichols’ bahnbrechendem Thriller „Wolf“ von 1994, auf eine Verwandlung in eine stärkere, sinnlichere, glücklichere Person hinweist und gleichzeitig für die Pubertät mit all seinen Schwellen steht: Wenn man als Pubertist*in eh weder Fisch noch Fleisch, weder Baum noch Borke ist, warum kann man dann nicht einfach Wolf sein?!
Das Sinnliche im Mischwesen aus Mensch und Tier macht sich auch die vor allem bei einem weiblichen Publikum erfolgreiche kanadische Fantasy-Serie „Bitten“ zunutze, die auf den Bestseller-Büchern von Kelley Armstrong beruht und in der die Wölfe in Menschengestalt größtenteils muskulöse, behaarte Kerle sind, die sich gern halbnackt auf sonnigen Waldlichtungen balgen. In „Bitten“ gibt es zwar eine weibliche Protagonistin, doch Elena Michaels ist die einzige Werwölfin auf weiter Flur.
Der Wolf ist ein Wölfchen
„Gute Manieren“ nimmt sich dieser Thematik nur bedingt an. Sein Fokus liegt mehr auf der Beziehung einer Mutter zu ihrem außergewöhnlichen Adoptivkind, das für andere ein gefährliches Monster, für sie jedoch eine schutzbedürftige Kreatur ist.
Doch während „Wildling“ oder „Wolf“ sich konzentrieren, um ihre starken Protagonist*innen durch die Reise zu begleiten und „Bitten“ einer klassischen, wenig überraschenden Seriendramaturgie folgt und die Hauptfigur Elena Liebes- und andere Abenteuer erleben lässt, mäandern Dutra und Rojas ein wenig zu sehr durch ihr Narrativ. Sie schweifen ab, werden auf der Strecke zwischen Claras Angst um Joel und dessen Selbstbefreiungsversuche fahrig und machen die Anfangsthematik einer lesbischen Beziehung zwischen Frauen aus unterschiedlichen Klassen, mit unterschiedlichen Hautfarben fast vergessen.
„Gute Manieren“. Regie: Juliana Rojas und Marco Dutra. Mit Isabél Zuaa, Marjorie Estiano u. a. Brasilien/Frankreich 2017, 135 Min.
Auch auf der Effektebene hinterlassen sie mit einem eher tatterig animierten Wolfswesen nicht ernsthaft Eindruck und setzen es wiederum zu selten ein, um einen saftigen B-Movie-Effekt zu erreichen. Und es gelingt ihnen nicht immer, das Anrühren und das Schockieren, die beiden relevanten Punkte ihrer Idee, überzeugend zu einem Ganzen zusammenzubringen.
Das schwächt zwar den Gesamteindruck. Ungewöhnlich und sehenswert bleibt ihr Film dennoch: Dass die Geschichte mit und durch die Augen von Frauen erzählt wird, dass sämtliche emotionalen und Spannungspunkte – Liebe, Gewalt, Schutz, Verlust – ausschließlich von weiblichen Figuren besetzt werden, dass erwachsene Männer kaum vorkommen, aber auch in der Erzählung überhaupt nicht fehlen, und dass der Wolf eher ein Wölfchen ist, das kommt einer Aneignung des Genres gleich. Denn üblicherweise ist eine Frau für einen Werwolf, dessen Physis und Verhalten als urmännlich, animalisch, aggressiv konnotiert wird, meist nur eines: leichte Beute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!