Neue Weihnachtsbräuche: Die Tor macht weit
Viele schmücken ihren Weihnachtsbaum heute schon Wochen vor dem Fest. Weihnachten und Advent werden damit viel erträglicher.
„Vorweihnachts-Trend: Christbaum schon im Advent“, liest man in diesen Tagen zum Beispiel auf der Website des Bayerischen Rundfunks; und wenn man Muße hätte, würden sich gewiss noch mehr Artikel finden, die konstatieren, dass sich gerade ein althergebrachter Weihnachtsbrauch verändert. Aber Muße haben wir ja gerade eben nicht, weil, um Karl Valentin zu paraphrasieren, es ruhiger traditionell erst wieder dann wird, wenn die stille Zeit vorüber ist.
Früher war der Weihnachtsbaum das Arkanum, das große Geheimnis. Am 23. Dezember spätestens wurde die Türe zum Wohnzimmer verschlossen, was bei beengten Wohnverhältnissen bedeutete, dass sich die Gesamtfamilie schon mal so richtig gemütlich nahe kam. Entsprechender Aggressionen wurde sich mit der Übergabe von Mütze, Handschuhen, Schal, Jacke entledigt und man selbst vor die Tür gesetzt. Gar nicht so selten lag dann draußen sogar Schnee und man traf andere Kinder – so lang ist das her!
Die Mutter war derweil damit beschäftigt, den Baum zu schmücken. Das Christkind würde pünktlich am 24.12. die Geschenke drunterlegen, den Weihnachtsmann gab es noch nicht, beziehungsweise war der als Team Nikolaus und Ruprecht schon am 6. Dezember dagewesen. Die Mutter schaffte es irgendwie neben der Wohnzimmerumgestaltung eine Gans oder ein Fleischfondue und eben das andere Bisschen vorzubereiten, was niemanden störte oder wunderte – zum Normalitätsbegriff lesen Sie bitte die Kolumne des Kollegen Volkan Ağar.
Am Ende wird gesaugt
Der Weihnachtstag selber begann dann als Kind regelmäßig mit Schmerzen. Die Aufregungsorgie hatte dafür gesorgt, dass der Hals schiefstand, man bekam Wickel mit heißem Kartoffelsalat zubereitet – wozu war eine Mutter schließlich da –, und dann war es endlich soweit: Der Baum eröffnete sich in seiner vollen Pracht, und das Leben der Kinder spielte sich in den nächsten Tagen fast ausschließlich in seinem Schatten ab, bis er dann seine Schuldigkeit getan hatte und reichlich nadelnd und mit Gejohle am Tag nach Heilig Dreikönig vom Wohnblockbalkon geworfen wurde. Anschließend musste die Mutter nur noch saugen – und dann war Weihnacht wirklich mal wieder vorbei.
Soweit zur wunderschönen Tradition, deren sentimentale Beschwörung – Sie haben es vielleicht gemerkt – hier durchaus auch mit ein paar kritischen Streuseln angereichert worden ist. Wenn ich heute meine Mutter anrufe und ihr sage, dass wir den Baum schon gekauft und aufgestellt haben, stutzt sie erst, findet aber dann die Sache sehr vernünftig.
Die Schmuddelwochen bis zum Fest macht der frühe Baum erträglicher, schmücken tun ihn unter Anleitung die Kinder, was der Spannung und Vorfreude auf den Weihnachtabend nicht merklich schadet, sondern die ganze Sache humanisiert. Wie lang der Baum stehen darf, entscheidet er letztlich selber: Bleibt er bis über Silvester hinaus ansehnlich, dann mag er bis zum Traditionstag bleiben, sonst wird auch er aus dem Fenster geworfen und zur Jahresendparty hat es sich dann endlich ausbesinnlicht und Weihnachten ist mal wieder vorbei.
Sorgen, dass mit einem solchen Vorgehen der Adventszeit der christliche Fastencharakter genommen werde, macht man sich ernsthaft selbst beim Bayerischen Rundfunk nicht mehr. Weihnachten ist heutzutage schließlich für alle da. Und wer sich fragt, ob es an dieser Stelle nicht Wichtigeres zu erörtern gegeben hätte, der darf vielleicht umgekehrt daran denken, was hier glücklicherweise einmal nicht erörtert wird: zum Beispiel, ob man sich und seine Kinder nun zum Schutz vor einer tödlichen Pandemie impfen lassen soll oder nicht. Oder wie meine Mutter es gerade einer sie zur besinnlichen Adventszeit besuchen wollenden Verwandten sagte, die den Impfschutz verweigert: „Da musst du dir dann leider wen anders zum Besuchen suchen.“
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump, Putin und Europa
Dies ist unser Krieg
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Bundestagswahl für Deutsche im Ausland
Die Wahl muss wohl nicht wiederholt werden
Bundesregierung und Trump
Transatlantische Freundschaft adé
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab