Neue Software für Regionalzeitung: Zu wenig Leute, zu viele Geschichten
Die „Rheinische Post“ bekommt einen Algorithmus, der Storys in sozialen Netzwerken aufstöbert. Konzerne nutzen ihn als Shitstorm-Alarm.
Bis vor Kurzem war Christian Lindner der Digital-Babo unter den Regionalzeitungsmachern. Der Chefredakteur der Koblenzer Rhein-Zeitung wurde lange dafür belächelt, mitunter mehr zu twittern als zu reden. Er tweetet viel: von „Chefredakteurs Freuden“ über „Chefredakteurs Leiden“ bis zur „Hall of Fame“ der Schlagzeilen, die seine Leute kreiert haben. Am Mittwoch hat er die Hall-of-Fame-Headline Nr. 2000 gepostet, allein das zeugt von digitaler Kontinuität. Das alles hat sich gelohnt: Die abgelegene Rhein-Zeitung gilt heute als innovatives Medienhaus. Jetzt aber stiehlt ihm einer die Show: Michael Bröcker.
Bröcker leitet – ein paar Kilometer flussabwärts – die Rheinische Post. Auch er hat das Digitale für sich entdeckt. Erst holte er sich mit Daniel Fiene, der das Radiomagazin „Was mit Medien“ miterfunden hatte und sich alle paar Tage in ein neues Technikspielzeug verguckt, einen Nachhilfelehrer ins Haus. Dann tauchte der regionale Zeitungsmacher plötzlich in Texas auf dem Digitalfestival „South by Southwest“ auf. Und nun startet auch er sein eigenes Digitalprojekt: Die Rheinische Post bekommt ein „Listening Center“.
Bröcker will mit dieser Einrichtung, die letztlich bloß eine Software ist, so systematisch wie keine andere Redaktion im Land das Internet nach neuen Geschichten durchforsten. „Wir sind zu wenig Leute für zu viele relevante Geschichten da draußen“, sagt der Chefredakteur. Seine Redaktion solle „besser zuhören, was Leute interessiert“.
Natürlich haben Redaktionen auch in den vergangenen Jahren schon ins Netz geschaut, viele sogar mit speziellen Social-Media-Redakteuren. Sie mussten sich dabei allerdings stets darauf verlassen, dass sie auch ja die entscheidenden Profile auf dem Schirm hatten. Die neue Software durchforstet hingegen alle Einträge, die Nutzer – mehr oder minder bewusst – öffentlich auf Twitter, Facebook und Co stellen.
Frühwarnsystem vor Shitstorms
„Das Programm erkennt zum Beispiel, wenn ein Inhalt in unserer Region häufig geteilt wird – etwa, weil der Nutzer einen schweren Unfall fotografiert hat“, erklärt RP-Redakteur Fiene, der inzwischen als „Chief Listening Officer“ durch die Redaktion läuft. Dass diese Bezeichnung nun bei der RP Einzug hält, ist nur folgerichtig, ist doch die Software, die Bröcker für mehrere tausend Euro lizenziert hat, bei Konzernen im Einsatz, die das System vor allem als „Shitstorm-Alarm“ benötigen. Wie etwa in der Deutschland-Zentrale von Vodafone. Das digitale Radar meldet sich, wenn mal wieder ein Blogger über schlechten Service klagt und das im Netz auch noch auf Interesse stößt.
RP-Chefredakteur Bröcker plant mit dem Algorithmus eine kleine Revolution: Jeder seiner Redakteure soll einen persönlichen Zugang bekommen und mindestens jede Abteilung eine personalisierte Sicht. Ruft er das Werkzeug auf, dann sieht er, wer wie über seine Zeitung twittert und facebookt, und kann sich bei Bedarf rasch einklinken, dagegenhalten oder applaudieren.
Lokalredaktionen wiederum sehen vor allem Beiträge, die vor ihrer Redaktionstür „viral gehen“, also die Runde machen – wie auf einem digitalen Marktplatz. Das funktioniert vor allem dann, wenn Nutzer den Apps der sozialen Netzwerke gestatten, ihren Standort abzugreifen. Die Redaktion füttert den Algorithmus aber auch mit eigenen Suchbegriffen und außerdem mit einer Grundmenge an relevanten Profilen, deren Fangemeinde der Algorithmus wiederum bei seinen Streifzügen durch die Weiten des Internets besonders berücksichtigen soll.
Bröcker erzählt, dass sein neues Programm 25.000 Suchanfragen pro Minute bearbeiten kann. „So weit ist die Technik“, sagt der Chefredakteur. Betont lässig. „Und so wie wir ständig die Lage bei den Nachrichtenagenturen checken, schauen wir jetzt eben auch ins Netz.“
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