Neue Panne im Akw Tricastin: Hundert Menschen kontaminiert
Die radioaktive Dosis lag zum Glück offenbar weit unter den Grenzwerten. Doch die französische Atomaufsicht fragt sich, wie so viele Menschen betroffen sein konnten.
PARIS taz129 ArbeiterInnen des Atomkraftwerks Tricastin mussten am Mittwoch zu eiligen Strahlentests ins Krankenhaus. Alle befanden sich im Inneren von Reaktor Nummer 4 des Atomkraftwerks auf der Anlage in der Nähe von Avignon, als dort radioaktiver Staub austrat. "Die Strahlenbelastung ist 40-mal niedriger als das Jahreshöchstlimit", erklärte anschließend Direktor Alain Peckre, "das ist nicht schwerwiegend." Die französische Reaktoraufsicht ASN stufte den "Zwischenfall" auf der internationalen Skala "Ines" mit 0 ein. Oberste Stufe eines Atomunfalls wäre 7.
Der Unfall geschah in einem der vier Reaktoren des AKW auf dem großen Gelände der Atomanlage von Tricastin. Der Reaktor war zum Unfallzeitpunkt für Wartungsarbeiten abgestellt. Nach bisherigen Informationen wurde bei den Arbeiten ein Rohr geöffnet. Dabei entwich radioaktiver Kobalt 58-Staub aus dem Inneren des Rohrs. Laut den französischen Elektrizitätswerken EDF wurden umgehend alle Personen evakuiert, die sich im Inneren des Reaktors befanden.
Annie Thebaud-Mony vom staatlichen Gesundheitsinstitut Inserm warnte davor, den Vorfall auf die leichte Schulter zu nehmen. EDF versuche den Zwischenfall "herunterzuspielen", wenn es auf den höheren Grenzwert hinweise, sagte die Forscherin Le Parisien. "Die Tatsache ist an sich schlimm, weil radioaktive Elemente Krebs erregende Gifte sind", die sich auch auf die Zeugungsfähigkeit auswirkten. Der Vorfall in Tricastin sei "ein Arbeitsunfall, bei dem Menschen radioaktiven Staub eingeatmet haben oder damit in Berührung gekommen sind". Der Unfall von Tricastin ist der vierte bekannt gewordene Zwischenfall in der französischen Atomindustrie in diesem Monat (siehe Kasten). In der Nacht zum 8. Juli waren aus einer anderen Atomanlage, die sich auf demselben großen Gelände von Tricastin befindet, mindestens 74 Kilogramm Uran in einer Flüssigkeit in zwei benachbarte Flüsse gesickert.
Die Badeverbote, die auf den Unfall folgten, waren erst am Dienstag aufgehoben worden. Der Urangehalt sei wieder auf "normal" gesunken. Doch es kommt neu hinzu, dass bei den Untersuchungen nach dem Unfall eine massive Uranbelastung im Grundwasser und in mehreren Brunnen von Bauern rund um die Atomanlage gemessen wurde. Bislang ist der Ursprung dieser Uranbelastung rätselhaft. Das unabhängige Forschungsinstitut CRIIRAD vermutet, dass sie von der unsachgemäßen Lagerung von radioaktiven Militärabfällen stammt. Seit den 70er-Jahren lagert die "Areva NC" - ein weiteres Unternehmen auf der Anlage - rund 760 Tonnen Militärabfälle unter einem Erdhaufen. Bei Regen kann die Abstrahlung in den Boden sickern. Die Unfall- und Pannenserie der letzten Wochen zeigt, dass die französische Atomindustrie Sicherheitsrisiken aufweist.
In einem Versuch, die Aufregung nach dem Unfall vom 8. Juli in Tricastin zu dämpfen, hat Areva-Chefin Anne Lauvergeon darauf hingewiesen, dass es im vergangenen Jahr in den französischen (zivilen und militärischen) Atomanlagen insgesamt 86 Zwischenfälle der Stufe 1 gegeben hat. Im selben Jahr kam es in Frankreich 800-mal zu Pannen der Stufe 0.
Inzwischen reagieren die ersten Leidtragenden etwas ungehaltener. Eine Anwohnerin der Atomanlage von Tricastin, Mutter von zwei Kindern und Bäuerin, hat in diesem Monat Klage gegen unbekannt eingereicht - wegen "Nachteilen durch das Nichtnutzenkönnen des Brunnens". Weitere Klagen gegen Betreiber auf dem Gelände werden folgen, unter anderem wegen Nichtinformation und Vernachlässigung des Schutzes der Öffentlichkeit.
Die Winzer, die in Tricastin einen Wein mit dem Namen herstellen, den auch das AKW trägt, wollen nicht auf Entscheidungen der Justiz warten. Um ihr Label zu schützen, ändern sie die Etiketten. "Tricastin" verkauft sich nicht mehr gut.
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