Neue Lieder aus Berlin: Nichts geht mehr
Ernsthafter Humor: Mit der Mini-LP „Gesänge aus freiwilliger Isolation“ begegnen Wladimir Kaminer und Yuriy Gurzhy einer grotesken Dystopie.
„Kaminer, das hast du dir doch ausgedacht“, möchte man meinen, wenn der deutsche Schriftsteller russischer Herkunft erzählt, wie er den Beginn des Lockdowns erlebt hat. Hat er aber nicht, und es war in der Tat Freitag, der 13. März, als Wladimir Kaminer im Casino Baden-Baden 20 Minuten vorher von der Absage seines für den Abend geplanten Auftritts erfuhr.
Was für eine Kombination! Russischstämmiger Autor plus Casino plus Baden-Baden – natürlich geht da ein Film los, in dem Dostojewski, das Roulettespiel, „nichts geht mehr“ und das Pfandhaus vorkommen, aber Kaminers Kino sollte eher das einer grotesken Dystopie werden: Als er zurück nach Berlin fahren wollte, fand er sich auf einem so gut wie menschenleeren Bahnhof wieder; wer da noch ausharrte, waren einzig und allein die Zeugen Jehovas.
Guter Dinge seien sie gewesen, erinnert sich Kaminer, schließlich konnten sie hoffen, nicht ganz unrecht gehabt zu haben. Auf die Frage, worauf es in dieser Zeit und der heraufziehenden denn nun ankomme, antworteten sie: „Festes Schuhwerk.“ Das dazu.
Arbeitslos, aber gut zu Fuß (der Buchtitel ist hiermit vergeben) begann Kaminer mit Freund*innen Songs zu produzieren, in denen sie der ernsten Bedrohung mit ernsthaftem Humor begegneten. Die „Gesänge aus freiwilliger Isolation“ des Duos Kaminer & Gurzhy lassen sich auf dem Youtube-Kanal der Berliner Band RotFront – Emigrantski Ragamuffin anhören.
Weil die Kulturbeilage taz plan in unserer Printausgabe wegen des Shutdowns derzeit pausiert, erscheinen Texte vom „taz plan im exil“ nun regelmäßig an dieser Stelle.
RotFront, das ist ein kleines, hochenergetisches Skapunkorchester, das die Musiker und Sänger Yuriy Gurzhy und Simon Wahorn 2003 aus dem Umfeld der Veranstaltungsreihe Russendisko gegründet haben und mit dem Kaminer auch live auftritt.
Für die Lockdown-Mini-LP von Kaminer & Gurzhy mit den Sängerinnen Anna Margolina und Katya Tasheva könnte der Begriff Estradenpunk geprägt werden: „QuaranTechno“ heißt einer der Songs, „Lockdown Asylanten“ oder „Alles ist zu!“ zwei andere. „Verlasse nicht den Raum“, das wäre gut und gerne auch die trocken-knarzende Aufforderung eines NDW-Hits.
Dabei sind Kaminer & Gurzhy schon mal rausgegangen. „Immunity“, eine Schwarz-Weiß-Hommage an Florian Schneider von Kraftwerk, zeigt die beiden, den Russen und den Ukrainer, auf einem Synthiepopspaziergang in Prenzlauer Berg, ungefähr zwischen Schönhauser Allee und Gleimstraße. Ganz frisch ist ein Song, der sich einem nachtaktiven Tierchen widmet, der Fledermaus.
Noch knapp vor dem Lockdown hatte der Naturschutzbund Deutschland Berliner*innen eingeladen, sich als Fledermauszähler zu betätigen. Kaminer möchte das Wappentier aller Dunkelaffinen verteidigen, ist es doch in den Ruf geraten, das Coronavirus zu übertragen. „Flieg, Mausi, flieg“, eine Kombination aus Beatbox und Chor, soll der Fledermaus zu einem besseren Leumund verhelfen.
Drei andere Tiere sind in einem Song zu bestaunen, dessen Geschichte aus der Meldung entstand, laut der kurz nach dem Lockdown Delfine in Venedig gesichtet worden seien. Ob Kaminer den Wunschtraum auf seiner Onlinelesung, die er diesen Freitagabend (21 Uhr) für das Kreuzberger BKA-Theater absolviert, aufgreift, wird abzuwarten sein, aber bereits im April veröffentlichten Kaminer & Gurzhy den Song „Laut Medienberichten“. Knapp drei Minuten lang ist er, ein kurzer Nachrichtenblock also.
Leseshow Wladimir Kaminer: Livestream aus dem BKA Theater Hauptstadtstudio, 5. 6., 21 Uhr, www.bka-theater.de
DJ Yuriy Gurzhy: Pandadance, Livestream aus dem PANDA e.V., 5. 6., 21 Uhr, www.panda-platforma.berlin
Das Video montiert nachtleere Straßen und kahle Baumlandschaften, verwaiste Theater und Clubs. Die Musik, Gitarre und Tamburin, könnte glatt aus einer Küchenfete hinübergeweht sein, wäre da nicht das zwischengeschaltete Stromgitarrensolo. Hochgeladen wurde das Video kurz vor dem 150. Geburtstag von Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin.
Wenn Delfine durch die Kanäle schwimmen, kann der russische Revolutionär noch mehr. Textauszug: „Im Lenin-Mausoleum / Hat Lenin sich bewegt / Ist kurz aufgestanden / Hat sich wieder hingelegt.“ Nach und nach treten sie auf, die Cartoonflipper, Möwen und Leguane, schnappen sich eine Lenin-Büste und tragen sie durch den Clip auf einen Plattenteller, auf dem die Leitfigur dann Karussell fährt.
Klarer Fall, dort gehört Lenin hin, dort macht er sich besser als einbalsamiert oder als Standbild. Das letzte Wort in diesen Videos hat übrigens Wladimir Kaminers Mutter, an dieser Stelle sagt die Zeitungsleserin: „Kommunismus okay, aber nicht wie in Russland“.
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