Neue Kriegsführung in der Ukraine: Im Drohnenkrieg
Seit einer Woche greift Russland verstärkt den Nordosten der Ukraine an. Dabei kommen vermehrt Drohnen zum Einsatz. Eine Reportage von der Front.
H alynas linke Wange trägt eine große Schramme. Grünzeug steckt in ihren hellen kastanienbraunen Haaren, die sie zu einem Knoten hochgebunden hat. „Seitdem Bachmut im Frühjahr 2023 von den Russen ‚befreit‘ wurde“, wie Halyna ironisch formuliert, „leiden wir.“ Die 65-Jährige ist eine von 677 Einwohner*innen, die in der Nachbarstadt von Bachmut, Tschassiw Jar, verblieben sind. In dem Ort lebten einst 13.000 Menschen.
Mit nackten Beinen sitzt sie auf einem Bett des Krankenhauses von Kostjantyniwka, des nächstgelegenen Hospitals von Tschassiw Jar, und umklammert mit beiden Händen ihren Schädel. Sie schließt die Augen, ihr Mund verzerrt sich zu einem stummen Schrei. Halyna hat eine Gehirnerschütterung erlitten, als sie einige Stunden vorher vor ihrem Wohnhaus in der Innenstadt verletzt wurde. Sie erinnert sich nur an einen Blitz, bevor die Druckwelle sie, ihren Sohn und ihren Ehemann erreichte.
Am 10. Mai hat die russische Armee eine Invasion im Nordosten der Ukraine gestartet. Innerhalb einer Woche hat sie Geländegewinne von 278 Quadratkilometern erzielt, nordöstlich von Charkiw hat sie mehrere Dörfer eingenommen. Kyjiw hatte vorgebeugt, Verteidigungslinien in der Region von Charkiw aufgebaut und Truppen von der Front bei Tschassiw Jar in die Nähe von Charkiw verlegt. Aber auch Tschassiw Jar wird pausenlos von den Truppen des Kreml attackiert. Die Stadt liegt auf einer Hügelkette in 227 Meter Höhe und ist eine Bastion der Ukrainer gegen die russische Artillerie, die nach Kramatorsk, Druschkiwka und Kostjantyniwka vorstoßen will. Ihr Ziel ist es, mehr Frontlinien zu schaffen, um damit die ukrainische Verteidigung in der Oblast Donezk zu schwächen.
Tschassiw Jar stellt für die russischen Streitkräfte einen Störfaktor auf dem Weg nach Kramatorsk dar, der De-facto-Hauptstadt der Region Donezk unter ukrainischer Kontrolle. Kramatorsk einzunehmen, käme einer Eroberung der Region gleich. Die russische Artillerie könnte dann auch massiv die Nachbarstädte im Donbass bombardieren.
Seit eineinhalb Jahren gibt es kein fließendes Wasser, kein Gas und keinen Strom mehr in der Stadt. Die Familie von Halyna lebte im Keller. „Es ist nichts mehr da“, klagt die aus Tschassiw Jar stammende Frau. Die von Kiefern und Kastanienbäumen gesäumten Alleen, die die Rentnerin so mochte, wurden alle von der russischen Artillerie vernichtet. Nach Auskunft der lokalen Behörden sind alle mehr als zweigeschossigen Gebäude der Stadt zerstört. Das in nächster Nähe der Kontaktlinie zwischen russischen und ukrainischen Soldaten gelegene Viertel Nowo Tschassiw Jar, im Nordosten des Ortes, ist ein Ruinenfeld.
Auf der anderen Seite des Kanals zeichnen Gerippe von alleinstehenden Häusern die Arterien der Stadt nach. Dennoch hofft Halyna nur eins: so bald wie möglich in ihre Geburtsstadt zurückkehren zu können. Ihre Zimmernachbarin Olena wundert sich: „Das ist mir schleierhaft! Selbst verletzt und mit Wundverbänden, überall wollen sie noch nach Hause.“ Die Mitsechzigerin bittet Halyna, in Kostjantyniwka zu bleiben. Diese weigert sich: „Das Grab meiner Eltern befindet sich in Tschassiw Jar. Ich bin dort geboren, mein Sohn und mein Mann ebenfalls. Ich werde dort bleiben. Ich gehe nirgendwohin“, sagt sie empört.
Die Bindung an ihre ukrainische Heimat ist nicht der einzige Grund, zu bleiben. „Man braucht Geld, egal wo. Wäre ich erst 40, würde ich in Erwägung ziehen, wegzugehen und woanders zu arbeiten, um eine Wohnung bezahlen zu können. Aber ich bin Rentnerin, und meine Rente beläuft sich auf 3.000 Hrywnja, umgerechnet 70 Euro, das reicht nicht angesichts der Preise auf dem Wohnungsmarkt.“ So verbleiben in Tschassiw Jar die Rentner*innen, die zu arm sind wegzugehen, die prorussischen Nostalgiker, die der ehemaligen Sowjetunion nachtrauern, diejenigen, deren Familie auf russischer Seite lebt, und die Randgruppen. Der Wahnsinn raubt manchen den Verstand. „Die Menschen reagieren seltsam“, sagt Eugen Tkaschow, ein humanitärer Helfer, der von dort stammt. „Für sie existiert nichts anderes“, erklärt er, „es gibt nur eine Realität, und das ist die von Tschassiw Jar. Manche wiederholen in Dauerschleife immer das Gleiche.“
Mehrere Male pro Woche riskiert Serhii Chauss, Chef der Verwaltung von Tschassiw Jar, sein Leben, um seine Angestellten mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Seine Talismane legt er nicht mehr ab: ein Armband, das ihm seine Frau geschenkt hat, und mehrere Ringe. „Das hier ist das Letzte, was ich aus meiner Wohnung im fünften Stock eines sechsgeschossigen Wohnhauses retten konnte“, erklärt er und scherzt: „Jetzt hat mein Haus einen schönen Blick auf den Himmel“. Er blättert auf seinem Handy durch einen Ordner, der den Titel „Krieg“ trägt und mehr als 3.000 Fotos und 50 Videos umfasst, mit denen er die Zerstörung festhält – sein „Familien“-Ordner beinhaltet dagegen nur 260 Bilder. Wut, Hass und Trauer steigen in ihm auf.
„Ich verstehe, dass die Menschen dort bleiben wollen, wo sie zu Hause sind. Aber sie setzen ihr Leben aufs Spiel“, sagt er. „Ich habe die Leichname von so vielen Menschen gesehen, die ich kannte. Vor zehn Tagen erst wurde ein 50-jähriger Nachbar von einer Rakete getötet.“ In dem Maße, wie sich die Sicherheitslage in Tschassiw Jar verschlechtert, verringert sich auch die Zahl an Hilfsorganisationen. Bei jedem Besuch versucht Chauss seine Mitbürger*innen zur Evakuierung zu überreden. Letzten Samstag hatten drei Einwohner endlich eingewilligt. Sie sahen einen Raketenregen im Rückspiegel, als sie sich von Tschassiw Jar entfernten. „Früher bombardierten die Russen die Stadt mit Artillerie, mit Mehrfachraketenwerfern und Kampfflugzeugen“, sagt Chauss. „Seit zwei Monaten spitzt sich die Situation zu, weil sie Tschassiw Jar mittlerweile sehr nah sind. Das erlaubt ihnen, Kamikaze-Drohnen und Präzisionsbomben einzusetzen.“
„Der Stadt nah“ ist eine beschönigende Formulierung. Seit der Eroberung von Awdijiwka, einer Industriestadt 50 Kilometer weiter südlich, hat die russische Armee ihre Truppen verstärkt, um Tschassiw Jar anzugreifen. Die russischen Soldaten haben seit Bachmut einen Durchbruch von mehreren Kilometern geschafft. Dennoch greifen sie weiterhin täglich ukrainische Stellungen an. Es ist erst 8:30 Uhr und seit dem Vortag hat es bereits drei Angriffe gegeben.
Jam (Codename) stürzt in die Kommandozentrale der fünften Sturmbrigade. Er prüft die Bildschirme, auf denen die Bilder in Direktübertragung zu sehen sind, die von den ukrainischen Erkennungsdrohnen eingefangen wurden. Vor seinen Augen sind zwei russische Soldaten dabei, in den Schutzraum seiner Leute in der Umgebung von Tschassiw Jar einzudringen. „Hat jemand unsere Stellung überflogen?“, fragt Jam, stellvertretender Kommandant der Truppe. Jemand in seiner Umgebung nickt. Jam regt sich auf. „Wozu haben wir Vögel (anderes Wort für Drohnen, d. Red.), wenn niemand diese Arschlöcher entdeckt?“ Schließlich antwortet ein anderer: „Wir hatten keine Vögel zur Verfügung, niemand hat in diesem Moment überwacht.“
Jam versucht seine Leute in der angegriffenen Stellung zu erreichen, die etwa 400 Meter vom russischen Vorposten entfernt liegt. Nach einer Weile antwortet ein ukrainischer Soldat. Er stammelt. Der stellvertretende Kommandant dreht sich zu seinen Untergebenen und sagt: „Scheiße! Er hat eine Gehirnerschütterung. Hört ihr das? Er kann kaum reden. Mist, ich bin doch nur fünf Minuten weg gewesen.“ Er ordnet dem Infanteristen an: „Erledige sie. Die Russen sind desorientiert durch die Angriffe der Kamikaze-Drohnen… Ist alles in Ordnung?“ Über Funk gesteht der Mann: „Ich weiß nicht, ob alle in Ordnung sind.“ Der ukrainische Soldat fragt Jam nach einer Pause: „Ich soll sie also töten?“ Der stellvertretende Kommandant bejaht es, bevor er für den anderen nicht hörbar stöhnt: „Das erste Problem ist das Fehlen von Augen“, womit er die ukrainischen Überwachungsdrohnen meint.
Nach Angaben des ukrainischen Militärs fällt der Vergleich in der Anzahl von Drohnen ohne Zweifel zugunsten der Russen aus. Auf eine ukrainische Erkennungsdrohne kommen vier russische und auf eine ukrainische Kamikaze-Drohne drei russische. Jam kämpft seit Anfang 2024 an der Front von Tschassiw Jar. Die Kamikaze-Drohnen sind seine größte Angst: „Sie können einer Person, einem Auto, einem Panzer buchstäblich folgen und sie ins Visier nehmen. Sie sind präziser als eine Fliegerbombe.“ Die Bewegung und Versorgung der Truppen ist die größte Herausforderung für das ukrainische Militär. Jeder Zug auf dem Schlachtfeld kann der letzte sein. Die Drohnen können alles ins Visier nehmen, was sich bewegt, Tag und Nacht. Während die Soldaten im Februar 2024 noch glaubten, sich im Dunkeln sicherer bewegen zu können, wissen sie heute, dass ihre Körperwärme sie verraten kann, die von Drohnen per Wärmebildkamera ermittelt wird.
Der Mann mit dem Codenamen Alpinist, Fahrer der M113, eines Transportfahrzeugs der amerikanischen Truppen, trauert der Schlacht von Bachmut hinterher: „Die Situation dort war nicht vergleichbar. Es war einfacher, die Stellungen zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren, ohne diese ganzen Drohnen. Man konnte die Infanterie ganz nah an ihre Stellungen heranbringen. Die Jungs öffneten die Tür und konnten quasi direkt in den Unterstand springen. Heute müssen sie wegen der Drohnen bis zu den Schützengräben mit ihrem Wasser, ihren Waffen und der ganzen Munition marschieren. Seit dem Fall von Bachmut heißt es nur noch: Drohnen, Drohnen, Drohnen.“
Vor jeder Fahrt nach Tschassiw Jar bekreuzigen sich Alpinist und seine Fahrer der von ihm befehligten fünften Sturmbrigade. Fünfzehn Leute ihrer Truppe wurden schon verletzt oder getötet. Mujahifld dient seit einem Monat. Der 41-Jährige, frisch mobilisiert, muss sich von seinen Schrecken am vorgestrigen Tag erholen, als ihn der Tod das erste Mal gestreift hat. „Ich fuhr sechs Typen zur ersten Linie, denn die Linie ist zu gefährlich. Sie waren noch im M113, als ich einen Blitz und dann eine enorme Explosion gesehen habe. Das war vielleicht eine Panzerabwehrrakete. Ich weiß es nicht. Ich war fixiert darauf, die Kameraden dort abzusetzen und so schnell wie möglich zu wenden, denn die Panzerfahrzeuge stellen ein Ziel dar.“
Alpinist und ein anderer Fahrer, der am Arm leicht verletzt ist, hören Mujahiflds Erzählung aufmerksam zu. Sie fürchten prinzipiell die Kamikaze-Drohnen, die explosiven Ladungen tragen und Panzerfahrzeuge schwer beschädigen können. „Es macht mir Angst. Ich wollte in die Infanterie, weil ich dachte, da bin ich mobiler und könnte gegebenenfalls besser Schutz suchen“, sagt Alpinist. „Im M113 fährst du Leute, das ist sehr laut. Du hörst das Surren der Drohnen nicht, du siehst nicht, wie sie sich nähern, und dann plötzlich – bumm! Ich habe einen Fahrer, der seine Beine auf diese Weise verloren hat, durch eine Drohne.“
Die ukrainischen Drohnenoperateure sind sich des Terrors bewusst, den ihre Vögel auf dem Schlachtfeld bewirken, weil sie präziser, zahlreicher und billiger als die Artillerie sind. „Es gibt immer irgendetwas, das über dir fliegt, dich in jedem Moment ins Visier nehmen und töten kann“, erzählt Matthew, der Älteste einer Einheit des Drohnenregiments Tsunami der Brigade Liut. „Man muss jede Minute wachsam sein.“ Er fährt fort: „Man hat keine Zeit, um herauskriegen, ob es eine russische oder eine ukrainische Drohne ist, du versteckst dich automatisch.“
Der 26-jährige Drohnenpilot wirkt zehn Jahre älter. Ständig empfängt er die Befehle seines Kommandos; draußen sind Streubomben zu hören. Es ist 6 Uhr in der Früh, die Männer des Kremls greifen die ukrainischen Linien in der Peripherie von Tschassiw Jar an. Ungefähr fünf Kilometer entfernt von der Kontaktlinie steuern Matthew und sein Team ihre Drohnen ununterbrochen gegen die russische Infanterie. Er hat höchstens zwei Stunden geschlafen.
Vor wenigen Minuten ist das Starlink-Netz zusammengebrochen. Die Einheit verfügt über keine Bilder ihrer Erkennungsdrohnen mehr, um ihre Kamikaze-Drohnen ans Ziel zu führen. Eine Stunde später erahnen sie blindlings, dass drei russische Infanteristen gesichtet werden, die versuchen, sich in die Stadt einzuschleichen. Ein Soldat hilft einem anderen, der gerade eine Kamikaze-Drohne steuert: „Siehst du den Krater bei der Tür?“ Matthew ergänzt: „Da ist ein grüner Busch, flieg da drüber, dort sitzen die Russen. Geh dorthin.“
Während die Maschine sich auf das Ziel stürzt, verliert die Truppe den Kontakt zur Drohne. Über Funk wird ihnen der Erfolg ihrer Operation bestätigt. „Es ist ein Glücksspiel für alle Kämpfer, eine Frage des Glücks“, sagt Matthew. „Man kann sich nicht unsichtbar machen. Die Russen erspähen dich vom Himmel aus. Sie lauern uns auf dieselbe Weise auf wie wir ihnen.“ Die Drohnen werden von beiden Armeen vorrangig genutzt, weil sie hohe materielle und menschliche Verluste bewirken.
Für Igor, Kommandant der Kompanie, die zum Tsunami-Regiment gehört, bedeuten die Drohnen die Zukunft dieses Krieges. „Und in Zukunft wird es noch schlimmer werden. Wenn heute eine Kamikaze-Drohne eine Strecke von 20 Kilometer zurücklegen würde, wäre niemand überrascht.“ Dann könnten sie in Bachmut starten und Kramatorsk erreichen. Beide Seiten versuchten innovativ zu sein, damit die Drohnen autonomer in der Markierung ihres Ziels werden, auch um zum Beispiel selbststeuernde Drohnen herzustellen. Dann werde es noch schwieriger, sich im Gelände zu bewegen. „Dieser Krieg hat die Büchse der Pandora geöffnet“, sagt Igor erschöpft.
In Tschassiw Jar sind die himmlischen Plagen das erste Mal massiv zum Einsatz gekommen. Jetzt erobern die tödlichen Vögel die ganze Front: von Saporischschja bis Torezk, Kreminna und heute Charkiw.
Aus dem Französischen: Sabine Seifert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind