Neue ICE-Strecke Berlin Paris: Paris, du schöne Rebellin
Nichts war für mich faszinierender als eine Stadt der Revolution, in der sogar Volksrestaurants mondän sind. Zeit für eine zeitgemäße Liebeserklärung.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das erste Mal in Paris war, aber ich weiß noch, wohin mich mein Weg geführt hat. Es war die Place de la Bastille: Mit der Erstürmung der Festung hat am 14. Juli 1789 die Französische Revolution begonnen. Als junger Revolutionär gab es für mich keinen besseren Ort, in die besondere Geschichte dieser besonderen Stadt einzutauchen. Seitdem weiß ich, dass Schönheit und Revolte kein Widerspruch sein müssen.
Paris, so behauptete es Walter Benjamin, sei die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gewesen. Das wurde gerne und begeistert aufgegriffen, und bald ging die Erzählung, die Belle Epoque habe Paris eine solche Schönheit verliehen, dass sogar die Nazis vor der Zerstörung der Stadt zurückschreckten.
Doch Benjamin ging es in seinem Passagenwerk um etwas anderes. Als einer der Ersten sah er die Zurichtung der Stadt, die fortan reine Konsummaschine sein sollte. Auch die Weltausstellung von 1889 kritisierte er: „Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware.“ Damals war nicht nur der Eiffelturm feierlich eröffnet worden. Zum 100sten Jahrestag der Revolution war auch die geschleifte Bastille temporär rekonstruiert worden.
Mit diesem angelesenen Wissen im Gepäck habe ich damals, Mitte der achtziger Jahre, die Stadt durchstreift und war dennoch überwältigt von der Erhabenheit, die sie ausstrahlte. Noch viele Jahre später tauchten Montmartre, das Marais und die Rue du Fauburg Saint-Antoine in meinen Träumen auf. Es war die Rive Droite, die Stadt am rechten Seineufer, an der ich Paris zum ersten Mal begegnet war. Am linken Seineufer war ich damals nicht.
Mit dem Fahrplanwechsel ab diesem Montag bekommt Berlin wieder eine Direktverbindung nach Paris. Der erste ICE wird um 11.54 Uhr am Hauptbahnhof losfahren und erreicht Paris-Est um 19.55 Uhr. In der Gegenrichtung startet der Zug um 9.55 Uhr in Paris und kommt um 18.03 Uhr in Berlin an.
Auch das Angebot nach Polen wird ausgeweitet. „Damit sind zwischen Berlin, Breslau und Krakau insgesamt drei umsteigefreie EC-Fahrten pro Tag und Richtung unterwegs“, teilte die Bahn mit. Der neue Fahrplan bringt weiterhin eine neue ICE-Nachtverbindung zwischen Berlin und der Schweiz.
Im Inland kommt ein zusätzlicher Direktzug zwischen Berlin und Saarbrücken hinzu. Zwischen Rostock und Berlin baut die Bahn das Angebot ebenfalls aus. Ein neuer ICE am Vormittag fährt von Warnemünde/Rostock dann weiter über Leipzig, Erfurt und Frankfurt nach Stuttgart. Der ICE nach Hamburg fährt wieder ohne Baustellen-Behinderung. (dpa)
Rechts der Seine hatte ich auch prächtige Restaurants entdeckt, so genannte Bouillons, in denen gutes Essen für einen schmalen Geldbeutel serviert wurde. Einziger Wermutstropfen: Auf der Straße musste man sich in eine lange Schlange einreihen. So auch im Bouillon Chartier Grands Boulevards in der Rue Faubourg Montmartre, das es noch heute gibt. Was für ein Kontrast zu Berlin! Dort gab es Volksküchen, in Paris Volksrestaurants. Die Stadt, das wusste ich schon damals, hatte mich.
Blauer Iro und RAF
Der zweite Parisbesuch war in politischer Mission, und diese führte uns auf die andere Seite der Seine, zur Rive Gauche, ins Quartier Latin und nach Saint-Germain-des-Prés, wo 1968 die Studentenrevolte tobte. An der Université VII in Jussieu wurde zum Jahresende 1986 gestreikt. Auslöser war der Versuch der Regierung, eine Art Numerus clausus einzuführen und die Studiengebühren zu erhöhen. Zu einer Vollversammlung der Studierenden entsandte der AStA der FU, dem ich als Fachschaftsreferent angehörte, eine Solidaritätsdelegation. Natürlich schwang da der Gedanke mit: Warum soll, was in Paris möglich ist, nicht auch in West-Berlin stattfinden können?
Unterwegs in meinem alten Golf rollten wir über Brüssel Richtung Paris, staunten über die hell erleuchteten belgischen Autobahnen und erlebten in Frankreich eine Antiterrorkontrolle von Beamten mit gezogenen Maschinenpistolen. Dass womöglich ich der Grund dafür gewesen war, dämmerte mir erst im Audimax der Universität in Jussieu. Ob ich der RAF angehöre, fragte mich ein Medienvertreter. Auf meinen ungläubigen Blick deutete er auf meine Haare. Ich trug damals einen blauen Iro.
Unterschlupf haben wir in einem besetzten Haus im Süden nahe der Stadtautobahn Peripherique gefunden. Doch mir dämmerte, dass Paris nicht mit Berlin zu vergleichen war – Schönheit hat ihren Preis. In dieser Zeit ist eine Überzeugung in mir gewachsen, wie wichtig es für die Stadtentwicklung ist, bezahlbaren Wohnraum auch in den Innenstädten zu erhalten, damit sie nicht zum Ghetto für Wohlhabende werden. In Paris ist dies, von Belleville vielleicht abgesehen, nur noch in wenigen Quartieren der Fall.
Teuer war Paris schon damals, aber immer noch aufregend rebellisch. Wir erlebten auch den Moment, in dem sich die Studentinnen und Studenten mit anderen sozialen Gruppen verbündet hatten. Bei einer Polizeikontrolle war im Dezember 1986 der Student Malik Oussekine von einer Sondereinheit der Polizei zu Tode geprügelt worden. Zum Trauermarsch kamen 50.000 Menschen, kurz darauf rief die Studentengewerkschaft zu einem Generalstreik auf. Paris, die Stadt der Revolution, der Kommune und des Mai 1968 fieberte einem weiteren Schlüsseldatum seiner rebellischen Geschichte entgegen. So jedenfalls wollten wir das damals sehen.
Inzwischen sind viele meiner Bekannten nur noch selten in Paris, und wenn, dann suchen sie wahrscheinlich, was die Menschen seit 100 Jahren dort suchen: die Stadt der Liebe, den Sonnenuntergang am Pont Neuf, die viel zu kleine Mona Lisa.
In den vergangenen Jahrzehnten sind gefühlt sogar mehr Pariserinnen und Pariser in Berlin gewesen als umgekehrt. Berlin war nicht nur deutlich günstiger, sondern in all seiner Unfertigkeit auch attraktiver. Das, was wir als schön empfinden, kann sich verändern.
Wenn ich Paris das nächste Mal besuche, werde ich nichts suchen, sondern mich treiben lassen. Vielleicht mit einem Leihrad. Denn an der Seine soll es inzwischen mehr Radspuren geben als an der Spree. Schönheit und Revolte sind eben nicht alles.
Vielleicht gehört zu einer Stadt des 21. Jahrhunderts auch Entschleunigung. Bestimmt werde ich versuchen, die Seine herunterzuschippern. Dann muss ich mich nicht einmal für das rechte oder linke Ufer entscheiden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr