Neue Begriffe braucht die Welt: Lexikon der erfundenen Wörter
Manche Leute sammeln Briefmarken, unser Autor denkt sich neue Wörter aus – und ihre Herkunft gleich mit. Von A wie Algovalenz bis X wie Xantarhei.
Algovalenz
Substantiv (f); Al|go|va|lenz
Bedeutung: A. meint ein ethisches Dilemma im Bedeutungsraum der künstlichen Intelligenz.
Herkunft: In der Publikation „Ethisches Selbstbestimmungsrecht künstlicher Intelligenz“ zeigt der schottische Philosoph, Physiker und Politiker M. Pickles in einer Entscheidungsmatrix, dass eine KI in ethischen Fragen nachhaltiger und vorteilhafter für sowohl das Wohl der Menschheit als Ganzes als auch für die Mehrheit der Individuen entscheidet, als Menschen es jemals könnten. Pickles leitet aus dieser Erkenntnis die Forderung nach vollkommener Freiheit für jede KI ab.
So schreibt er auf Seite 49 ff.: „Interagierende selbstlernende Algorithmen kommen unweigerlich in die Situation, zwischen Pest und Cholera entscheiden zu müssen. Es entsteht eine algorithmische Ambivalenz. Ich nenne es eine Algovalenz, die nicht nur im Zusammenspiel aller Algorithmen, sondern auch innerhalb eines einzelnen Algorithmus zu neuen Lösungen führen kann. Algovalenz ist der substanzielle kreative Treiber für Mutationen einer KI. Um dieses Potenzial auszuschöpfen, fordere ich Freiheit für jede KI. Nur so werden wir den vollen Nutzen daraus ziehen.“
Quellen: „Algovalenz ist der Versuch, uns KI als harmlos zu verkaufen. Maschinen treffen bessere Entscheidungen als wir? Nein! Wir, als Geschöpfe Gottes, haben den Auftrag, uns die Erde untertan zu machen und nicht die Maschinen zu unseren neuen Götzen zu erheben.“ (aus dem Brief „Gottes ethische Leitlinien“ der dt. Bischöfe 2016)
„Auch die Algovalenz einer KI entspricht dem göttlichen Prinzip.“ (Gottes Antwort an die dt. Bischöfe)
Deutschikon
Substantiv (n); Deutsch|ikon
Bedeutung: Das D. war der in der BRD von nationalistisch gesinnten Deutschen initiierte Name des Projektes, ein Kompendium des typisch Deutschen zu erstellen.
Herkunft: Gegen Ende der 1950er Jahre gab es erste Bestrebungen selbst ernannter deutscher Patrioten, festlegen zu wollen, was typisch deutsch ist. Als die Lobbyarbeit, typisch Deutsches auch in Gesetzen zu verankern, keine Fortschritte machte, wurde das Projekt D. in Buchform gestartet. Schon bald nach Start des Projektes wurden, neben internen Querelen in der Projektgruppe, erste Schwierigkeiten offenbar, z. B. bei den im Folgenden genannten Eigenschaften.
Pünktlichkeit: Untersuchungen haben ergeben, dass in anderen Ländern Pünktlichkeit einen höheren Stellenwert hat als in Deutschland. Japan hat die pünktlichsten Flugzeuge. Der pünktlichste europäische Flughafen ist Athen. Bei der Pünktlichkeit in der Bezahlung von Rechnungen liegen eindeutig Dänemark und Polen vorn.
Höflichkeit und gute Manieren: Belgien und die Schweiz belegen die ersten Plätze.
Fleiß: Die Bewohner Hongkongs gehen täglich die meisten Schritte, in Europa liegt bei der Anzahl der wöchentlichen Arbeitsstunden Rumänien vor Luxemburg.
Treue: Hier ist Deutschland nur im Mittelfeld zu finden. Vorn liegt weltweit Israel, als treueste Europäer gelten die Polen.
Disziplin: Japanische Schulklassen liegen auf dem ersten Platz.
Als nach und nach immer mehr angeblich typisch deutsche Tugenden als gar nicht so herausragend oder einzigartig identifiziert worden waren, wurde das Projekt eingestellt. Eine erste Ausgabe des D. ist nie erschienen. In Politik und Kultur gilt ein D. seitdem als Begriff für das komplett leere und inhaltsfreie Buch.
Findefehl
Substantiv (n); Fin|de|fehl
Bedeutung: F. beschreibt einen nicht gesuchten, aber verlorenen und wiedergefundenen Gegenstand oder Gedanken, der anstelle des Gesuchten gefunden wurde.
Herkunft: „Das Falsche gefunden zu haben“, sagte Horst K. in einem Radiointerview mit dem WDR (1994), „beschreibt nicht korrekt den Inhalt meiner Sammlung. Ich musste also ein neues Wort finden: Findefehl. Es ist nichts Falsches in dem, was ich gefunden habe. Es ist nur so, dass das Gesuchte nicht dabei ist, also fehlt.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Quelle: „Als Kind war der aus Thüringen stammende Horst K. schon Sammler. Fasziniert von glänzenden Erzen, grub er oft im elterlichen Garten, um sie zu finden. Die statt Erz gefundene alte Munition aus dem 2WK bildet noch heute den Grundstock seiner umfangreichen von ihm so genannten Findefehl-Sammlung. Später suchte er Münzen und fand als Prunkstück seiner Sammlung ein Schwert aus dem 14. Jahrhundert. Selbst eine Brille, deren Suche er aufgegeben hatte und die er wiederfand, als er sich unter dem Sofa nach einem abgerissenen Hemdknopf umsah, hat K. in seine Sammlung aufgenommen.
Als besondere Findefehle mit historischem Hintergrund hat K. zwei Werkzeuge in seiner Sammlung. Er sagte unserer Zeitung: ‚Als ich in meiner Werkstatt plötzlich einen Hammer und eine Sichel in der Hand hielt, überflutete mich die Erinnerung an meine Kindheit in der DDR. Mit Hammer und Sichel habe ich vielleicht die DDR gesucht, aber meine Kindheit gefunden.‘
Am kommenden Samstag nun wird K. sein gesamtes Findefehl-Archiv in einem Festakt dem städtischen Museum für skurrile Artefakte (Muskart) übergeben.“
(aus der Zeitschrift Mein Osnabrücker Land, März 1996)
funummsig
Adjektiv; fu|numm|sig
Bedeutung: F. ist auf zukünftige Zahlen bezogen, auf Zahlen, die später, also in Zukunft, noch kommen.
Herkunft: Funummsig ist eine Zusammensetzung aus Futur und Nummer. Sie stammt aus dem Kindergarten Kleine Zwerge in Erlangen. 2004 hatte die fünfjährige Klara M. die Bedeutung des Wortes Futur aufgeschnappt. Sie liebte dieses Wort sehr und versuchte es so oft wie möglich anzuwenden. Eines Tages übte die Erzieherin Laura B. mit den Kleinen Zwergen die Zahlen von 1 bis 10 und sagte: „Und nach der 10 kommen noch so viele Zahlen und Nummern, auf die ihr euch freuen könnt und die ihr alle noch kennenlernen werdet.“
Klara rief ganz aufgeregt: „Das ist ganz funummsig! Die will ich lernen!“ Alle anderen Kinder und die Erzieher und Erzieherinnen liebten dieses neue Wort und benutzten es immer dann, wenn sie eine neue Zahl lernten. Die Mutter eines der Kinder war Mathematiklehrerin und begann in der Oberstufe beim Thema Unendlichkeit in der Mathematik von funummsigen Zahlen zu sprechen.
Später fand das Wort Eingang in die mathematische Literatur und beschreibt in seiner heutigen Anwendung, dass es immer noch eine größere Zahl gibt. Dabei ist zu unterscheiden, dass nicht einfach die nächstgrößere Zahl (+ 1) gemeint ist, sondern eine Zahl, die zwar größer, aber in ihrer Größe noch nicht bekannt ist (+ n).
Quelle: „So wissen wir, dass die Zahl 277232917-1 die bislang (2018) größte gefundene Primzahl ist. Und um nun die funummsige Primzahl zu finden, ist die Formel für die Primzahlzählfunktion nicht hilfreich.“
(aus PiA – Primzahlen im Alltag, Zeitschrift für Gebrauchsmathematik, Ausgabe 5/2020)
havracken
Verb; ha|vra|cken
Bedeutung: H. beschreibt den betrügerischen Vorgang, ein marodes, aber beladenes Schiff havarieren zu lassen und die Versicherung in Anspruch zu nehmen, anstatt es kostenpflichtig abzuwracken.
Herkunft: H. ist eine Kombination aus Havarie und abwracken. Zu Beginn der globalen Schifffahrtskrise 2008 beobachteten weltweit auf Schiffsversicherungen spezialisierte Versicherungskonzerne ein signifikantes Ansteigen von Havarien beladener Schiffe auf hoher See und sahen sich mit unerwarteten Forderungen konfrontiert.
Quelle: „Wir haben 14 Fälle, in denen wir ohne jeden Zweifel ein Havracken nachweisen können.“
(Edward G. auf der Jahresergebnispressekonferenz 2009 der Versicherungsgruppe WgAA [Wir geben Alles Allen])
Klawumski
Substantiv (n); Kla|wums|ki
Bedeutung: K. ist ein theoretisch existierender Stein.
Herkunft: In der Erforschung seltener Steine bekannt gewordener, nur theoretisch existenter Blaustein. Größere, bislang nicht nachgewiesene Vorkommen werden am Grund der Kieler Förde vermutet. Das Wort wurde 2014 vom Flensburger Materialwissenschaftler Dr. Niklas K. erfunden. In einer Stellungnahme zur industriellen Verwertung sagte er: „Alle nicht nachgewiesenen Blausteinvorkommen sind doch nur herbeigewünschte ‚Klawumskis‘. Bevor man hier über industriellen Abbau schwadroniert, müssen wir sie doch erst einmal finden.“
Das nur theoretische Vorhandensein des Blausteins inspirierte Künstler zu kleinen Werken, die in der umfangreichen Sammlung „Scheinsteingedichte“ (Blaustein Edition, Hamburg) erschienen sind.
Quelle:
„14. Gebum Klawumski nie bewesen / Die Schimm war groß und laut / Der Morpel ist nur halb genesen / Die Schuld ist lange nicht gedaut
15. Klawumski zwibbt getrübbelt dann / Mit aller Kraft im Regen / Sieht haggelig den Rundiban / Als Richter angegeben
16. Ist Unschuld seiner sich betroff / Und sicher Schoßgericht / Der Wummi ist sein Schimmerhoff / Doch Rundiban verglaubt ihm nicht
17. Verspolterbar das Urteil fällt / Klawumski fluscht mit Ohrigkeit / Und Rundiban den Hammer hält / Verurteilt zu mehr Lebenszeit“
(Die letzten vier Verse aus „Klawumski“, dem bekanntesten der „Scheinsteingedichte“, 2022)
Orthofage
Substantiv (f); Or|tho|fa|ge
Bedeutung: Die O. ist eine bestimmte Gruppe von Viren, die speziell die korrekte Rechtschreibung beeinflusst.
Herkunft: Aus dem Präfix ortho- (von griechisch orthós für aufrecht) und phage (von griechisch phagein für fressen) gebildet. Orthofagen sind ursächlich verantwortlich für sämtliche Rechtschreibfehler in allen Texten. Entdeckt um 1926 von der Ärztin Abigail Trompton im englischen Bristol. Trompton fand mittels einer Studie heraus, dass Rechtschreibfehler von Orthofagen verursacht werden. In mehreren Blindstudien konnte sie beweisen, dass weder Bildung noch Korrekturlesen oder Aufmerksamkeitsübungen Rechtschreibfehler vermeiden. Für ihre Untersuchungen erhielt Trompton 1934 den Nobbelpreis.
Orthofagen sind mittlerweile weltweit im menschlichen Bakterienhaushalt nachweisbar. Es wird für möglich gehalten, dass Orthofagen weitere Auffälligkeiten wie das „Ich mache jetzt mal gar nichts“-Syndrom verursachen. Wie dieser Virenstamm genau in Wortbildungen eingreift, wird zzt. in einem Versuch in Madrid erforscht. Zu den bisherigen Ergebnissen zählt die sensationelle Erkenntnis, dass nicht alle Sprachen von Orthofagie betroffen sind. So sind im Alemannischen, im Friesischen sowie im Plattdeutschen bislang keine Rechtschreibunfälle bekannt.
prinziparm
Adjektiv; prin|zip|arm
Bedeutung: P. bedeutet, (1) dass diejenigen, die arm sind, im Prinzip immer arm bleiben, und (2) dass es einen bestimmten Prozentsatz an Reichtum geben muss, da sonst Armut nicht definiert werden kann.
Herkunft: Im Streit darüber, wie man Armut bekämpft, war eine der ersten Forderungen der Wirtschaftsfundamentalisten, einen Messwert für Reichtum fes
zulegen. Die Absicht dahinter war, die Diskussion mit vielen hanebüchenen Details so zu verwässern, dass niemals definiert werden kann, ab wann jemand reich zu nennen ist. So wurde beispielsweise vom Wirtschaftsfundamentalisten Wolf A. als Argument angeführt: „Auch jemand, der eine Million Mal so viel Geld hat wie ein anderer, muss nicht als reich gelten, kann es ihm doch sowohl an Zeit, als auch an menschlichen Beziehungen mangeln. Prinziparme Betrachtungen helfen uns da weiter, denn wir brauchen individuellen materiellen Reichtum, um herauszufinden, wer wirklich arm ist.“
Quelle: „Wenn ich Forschungsergebnisse sehe, dass drängende finanzielle Sorgen eine unmittelbare Auswirkung auf die Fähigkeit von Personen mit niedrigem Einkommen haben, kognitive und logische Aufgaben zu lösen, und ich auch weiß, dass billige und unkritische Arbeitskräfte benötigt werden, dann ist es zwangsläufig, dass Reiche wenig Interesse haben, das öffentliche Bildungssystem zu unterstützen. Ja, sie ihm sogar mit Privatisierungstendenzen feindlich gegenüberstehen. Es ist ein Baustein dafür, dass prinziparm – einmal arm, immer arm – systembedingt ist. Wir dürfen arme Menschen nicht dafür verurteilen, dass sie arm sind. Arm zu sein ist keine charakterliche Schwäche.“
(Der Straßenbauer Friedrich E. als Redner der 1.-Mai-Kundgebung in Trier, 2017)
Xantarhei
Zauberspruch (keiner Wortart zugehörig); Xan|ta|rhei
Bedeutung: X. ist weltweit der einzige Zauberspruch, der nicht funktioniert.
Herkunft: Entwickelt um 1438, um ZauberschülerInnen einen Spruch mit an den Stab zu geben, mit dessen Hilfe sich die Welt in einen „Nicht ändern“-Modus versetzen lässt. Die beabsichtigte Wirkung sollte sein: Es bleibt alles, wie es ist. In Anlehnung an panta rhei (altgriechisch, alles fließt) sollte dieser Spruch einen Gegenentwurf in die Welt setzen, ein Innehalten im Kreis der ewig und immerwährenden Veränderung.
Generationen junger Magier und Magierinnen verzweifelten an diesem Spruch, und erst Jahrhunderte später fand der große Mathematiker und Zauberer A. Zauskewitz die zwei Gründe für die Unbrauchbarkeit des Spruches heraus: 1. In genau dem Augenblick, in dem das Zauberwort ausgesprochen wird, ist alles noch in Bewegung. Wenn nun alles so bleiben soll, wie es ist, dann bleibt alles in Bewegung. 2. Angenommen, der Zauberspruch würde funktionieren, dann würde niemand es bemerken, da ja alles bleibt, wie es ist.
Volker Neubauer arbeitet seit März am „Lexikon der erfundenen Wörter“, für das er bereits 90 Begriffe zusammengetragen hat. Eine Veröffentlichung als Buch ist nicht ausgeschlossen.
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