Neue „Agrippina“-Comics auf Deutsch: Jung und schlecht gelaunt
Mit der „Agrippina“-Reihe setzt die französische Zeichnerin Claire Bretécher pubertierenden Mädchen ein schönes Denkmal.
Sie hat eine dicke Nase, drapiert ihre Körperfülle mit den unmöglichsten Klamotten und versprüht beständig schlechte Laune. Sie heißt Agrippina. Und sie war viel zu lange weg.
Deutschen LeserInnen ist der comicgezeichnete Kampfteenager mit dem klassischen Namen schon seit den Achtzigern bekannt. 1988 erschien bei Rowohlt der erste „Agrippina“-Band. Darin motzte und zickte sich die Heranwachsende durch eine großbürgerliche Familie. Der Vater ein verträumter Literaturprofessor und heimliches Idol, die Mutter ein Anti-Vorbild, der kleine Bruder: Nervensäge vom Dienst.
Liebevoll und unpeinlich in deutschen Jugend-Slang übersetzt, gaben sich Agrippina und ihre beste Freundin Bergère dem pubertären Ennui hin (“voll öde Insel“) oder trotzten selbstbewusst plumpen Annäherungsversuchen des anderen Geschlechts (“Nimm die feuchte Futterluke weg“). Auf der anderen Seite: Liebeskummer, miese Noten, Körperkomplexe.
Das Elend junger Mädchenblüte, minimalistisch skizziert, mit Gespür für reale Gefühlslagen und überdrehte Situationskomik. Drei von fünf Bänden erschienen bei Rowohlt auf Deutsch. Dann war Schluss.
Claire Bretécher: „Agrippina: Allergien“, „Agrippina: Fix und fertig“, 50 und 53 Seiten. Reprodukt, Berlin 2015, je 15 Euro
Das Feld der feministisch geschulten Frauencomics dominierten hierzulande Marie Marcks und die Emma-Hauszeichnerin Franziska Becker. Deren Polit-Emanzen, Eso-Trullas und Vollwert-Muttis bildeten zwar wahrheitsgetreu das Spektrum der bundesrepublikanischen Frauenbewegung ab. Aber „Agrippina“ war immer mehr: böser, absurder, intellektueller als die vergleichsweise braven deutschen Alternativen.
Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Sexualprobleme
Jetzt ist „Gripp“, wie nur Freundinnen sie nennen dürfen, zurück: Der Berliner Reprodukt-Verlag hat die letzten beiden Bände „Allergien“ und „Fix und fertig“ herausgebracht. Agrippina, nur geringfügig gealtert, schlägt sich darin mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Sexualproblemen, mit ihrer zwanghaft jugendlich auftretenden Großmutter und der exzentrischen Urgroßmutter Sumsi herum.
Als Oma ihr im Laden die ersehnten Gürteltier-Boots abjagt, sucht Agrippina Trost bei den Eltern. Aber die lassen sich gerade scheiden – und haben so viel Sex wie nie.
Der kleine Bruder durchlebt gerade eine transsexuelle Phase. Und als ihre Urgroßmutter das Altersheim mit Graffiti vollsprüht, fehlt Agrippina dafür jedes Verständnis.
Eine der ganz wenigen Frauen im Comic-Business
Die Comics sind vor allem deswegen so komisch, weil die Zeichnerin Bretécher so nah dran ist an dem Milieu, das sie beschreibt – auch wenn sie selbst schon 75 Jahre alt ist. Bretécher, die als eine der ganz wenigen Frauen im Comic-Business der 1970er Jahre reüssierte, entstammt selbst der linksintellektuellen Bourgeoisie. Auf Wunsch ihrer Eltern absolvierte sie zunächst eine Ausbildung als Zeichenlehrerin, zog dann nach Paris und arbeitete für den Asterix-Schöpfer Goscinny.
1974 begann ihre Solokarriere mit der Serie „Les Frustrés“, (deutsch: „Die Frustrierten“), die sie für die Wochenzeitschrift Nouvelle Observateur zeichnete. Darin beschrieb Bretécher schonungslos die Neurosen und Widersprüche von Wildlederstiefel tragenden Öko-Feministinnen, antiautoritären Müttern und männlichen Salonkommunisten. Rhetorisch gab man sich radikal und antiautoritär. In der Praxis aber ließ man sich die Austern von der portugiesischen Zugehfrau zubereiten und aß sie, ganz bürgerlich, im Kreise der Kleinfamilie.
Agrippina, diese rotzige, Hängehosen tragende, aber mit allen diskursiven Wassern gewaschene Tochter des Hauses, ist die Ausgeburt dieses Milieus. Sie pflegt ihre Allergien und Neurosen. Und scheitert mit ihrer feministischen Furchtlosigkeit im Bett an den sensiblen Männern ihrer Generation.
Bretécher selbst kündigte kürzlich an, dass es jetzt vorbei sei mit der Jugendversteherei. Sie wolle jetzt nur noch malen. Agrippina wird wohl ewig ein schlecht gelaunter Teenager bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies