Neubau-Knatsch am Rande Berlins: Die Platte am Moor
Im kleinen, aber komplexen Berliner Ortsteil Buch ist ein Streit zwischen Naturschützern und Senat entbrannt. Ein großes Quartier soll entstehen.
Denn hier, in einem der beiden nördlichsten Ortsteile Berlins, kurz vor der Stadtgrenze, findet man nicht das, was man sich „in der Stadt“ darüber erzählen mag. Weder ist etwas von Plattenbautristesse zu sehen, noch vom sozialen Brennpunkt zu spüren.
An diesem Ort ist vor allem viel Grün. Und viel Stille. Hin und wieder raschelt es in den letzten Blättern, die noch an den Bäumen hängen. Und plötzlich fliegt tatsächlich ein paar Kraniche über den Abenteuerspielplatz Richtung Moorlinse, dem natürlichen See gleich dahinter. „Wer weiß, ob die noch hier landen würden, wenn da gleich Häuser stünden“, sagt Martyn Sorge und zuckt mit den Schultern.
Rund um den Abenteuerspielplatz in Buch soll gebaut werden, nach aktuellen Plänen 2.580 Wohnungen für 6.000 bis 9.000 Menschen, Baubeginn 2024. Es wird Wohnungen in Gebäuden mit fünf, acht, zehn und zwölf Geschossen geben. Auf einer Gesamtfläche von etwa 80 Fußballfeldern soll hier ein „lebendiges, städtebaulich attraktives und autoreduziertes Quartier“ entwickelt werden, so zumindest beschreibt es die für die zuständige Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen auf ihrer Website. Ergänzt wird das Ganze durch Kindertagesstätten und eine neue Grundschule – inklusive der Berliner Verpflichtung für Investoren, bei Bauvorhaben mindestens 30 Prozent als Sozialwohnungen zu vermieten. Deren Kaltmiete liegt meist bei 6,50 pro Quadratmeter.
Dichte Bebauung statt Flächenfraß
Auf den ersten Blick scheinen sie bei diesem Quartier alles richtig gemacht zu haben: dichte Bebauung statt Flächenfraß durch Einfamilienhäuser. Eine direkte S-Bahnanbindung gibt es, die allerdings wegen chronischer Überfüllung zu den Stoßzeiten noch häufiger getaktet werden müsste, ein neuer Kiez inklusive Angerplatz und „Promenade“, die sich zur Einkaufspassage auf der anderen Seite der S-Bahn öffnen und diese stärken sollen. Selbst der Abenteuerspielplatz darf bleiben, dank lauter Proteste bei einer Bürgerbeteiligung.
Martyn Sorge zuckt allerdings wieder mit den Schultern. „Die Bürgerbeteiligung war Fake“, sagt er. Und: „Wir fühlen uns gemobbt.“ Die Bebauung werde die Moorwiese regelrecht umzingeln. Auch zur schönen Natur außen rum, die vom Abenteuerspielplatz genutzt wird, halte sie zu wenig Abstand. Und es sollen über 7 Hektar Wald gerodet werden.
Martyn Sorge, Initiative Buch Am Sandhaus
Sind das Luxusprobleme in einer Stadt, wo sich die Mieter*innen auf die Füße treten? Gisela Neunhöffer von der Bürgerinitiative Am Sandhaus schüttelt den Kopf. „Sie haben sich für den Entwurf entschieden, der die meisten Wohnungen vorsieht. Leider ist das auch der Entwurf, der den größten ökologischen Fußabdruck hätte.“ Und die Landschaft hier ist wirklich einzigartig. Die Moorlinse hat sich nach der Stilllegung der hiesigen Rieselfelder gebildet und gehört zum sogenannten Niedermoor. Die Artenvielfalt, die sich angesiedelt hat, ist von Teichmolch zu Rothalstaucher bis Blessralle imposant.
Das Wohnviertel Am Sandhaus in Buch ist eines von insgesamt 16 neuen Quartieren, die nach den Beschlüssen der letzten Regierung Berlins unter SPD, Linken und Grünen in den nächsten Jahren entstehen – zwei von ihnen befinden sich innerhalb, der Rest außerhalb des S-Bahn-Rings. Ein gutes Viertel der knapp 200.000 Wohnungen, die die wachsende Stadt nach Berechnungen des Zuzugs vor Corona braucht, sollten seitdem gebaut werden – allerdings streiten dieselben Parteien in den aktuellen Koalitionsverhandlungen nun wieder über diese Zahl. Und auch die Bezirke stellen sich wieder neu auf. Entschieden wurde über die Quartiere eben 2018 – und damals war der Klimawandel noch nicht in aller Munde.
Gelebtes Miteinander auf Stelzen
Wir sind inzwischen im Zentrum des Abenteuerspielplatzes gelandet und werden von neugierigen Kindern umringt. Ein Mädchen läuft auf Stelzen, ein anderes kommt kurz aus einem der gelben Bauwagen, wo gerade gekocht wird. Wir setzen uns auf eine Art Dorfplatz. In der Moorwiese spielen sie thematisch mit Erkenntnissen aus mehreren Ausgrabungen der Eisenzeit, die hier in der Gegend vorgenommen wurden. Marcus Bahr bringt ein paar Schaffelle, auf denen man bei dieser Kälte gut noch draußen sitzen kann. Seine Kolleg*innen und er haben hier mit den Kindern Lehmhäuser und einen Brunnen gebaut, üben mit ihnen alte Techniken wie Bogenschießen, Zinngießen, Filzen. Überflüssig zu erwähnen, dass hier Kinder aus allen sozialen Schichten zusammenkommen – die unter Status bekanntlich oft etwas ganz anderes verstehen als ihre Eltern.
Gisela Neunhöffer erzählt, wie die Initiative Am Sandhaus entstanden und wie sie zu gemeinsamen Zielen gekommen ist. „Ökologisch gesehen wäre es das Sinnvollste, gar nicht zu bauen“, sagt sie. Aber da die Mieten in Berlin nun mal wieder bezahlbarer werden müssen, haben sie sich das Gebiet genau angesehen, haben hin und her gerechnet und sind bei etwa 1.000 Wohnungen herausgekommen. „Das wäre aus unserer Sicht ökologisch und sozial gerade noch verträglich“, sagt sie. „Und das, ohne Wald zu fällen, ohne der Moorlinse zu nahe zu kommen oder den Abenteuerspielplatz einzukreisen.“
Naturschützer versus Baulöwen, Flora und Fauna versus Beton: Von Konflikten wie diesen hat man schon oft gelesen. Das Besondere daran ist: Die Initiative am Stadtrand erhält nicht nur viel Zustimmung von Naturschützern, Klimaaktivisten und Stadtplanern. Hier wird es auch grundsätzlich und wimmelt nur so vor kreativen Ideen: Man könnte Zweckentfremdung, Spekulation und Leerstand verbieten, Wohnraum in gemeinwohlorientierten Besitz rückführen, Wohnflächenbudgets einführen und Ausgleichszahlungen bei Überschreitung, Wohnungstauschbörsen einrichten, die auch funktionieren. Besonders seit Corona wird auch wieder lauter gefordert, Büroflächen umzuwidmen.
Was aber auch neu ist an dieser Geschichte von einer kleinen Initiative gegen die mächtige Senatsverwaltung: Hier in Buch arbeiten Alteingesessene und Zugezogene in der Initiative zusammen. Hier sind die Alteingesessenen nicht immer alteingesessen, und die zukünftigen Zuzügler sind auch nicht unbedingt die, die als Ruhestörer angesehen werden. Neunhöffer etwa wohnt selbst noch nicht lange in Buch in einem neugegründeten Wohnprojekt. Sie ist froh, dass alte und neue Bucher hier gemeinsame Ziele verfolgen. Und das ist in Buch mit seinen komplizierten Konfliktlinien nicht selbstverständlich.
Mit der Wende kam alles anders
Denn Buch ist ein kleiner, aber komplexer Ortsteil. Auf der einen Seite ist er schon lange ein hoffnungsvoller Gesundheits- und Forschungsstandort: Die ersten Kliniken entstanden hier bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, später siedelten sich auch Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR an. Man erzählt sich, dass hier sogar Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer forschten. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden zahlreiche Plattenbauten in Buch, wo, wie in der DDR üblich, auch die gebildete Mittelschicht gern in die sogenannten Vollkomfortwohnungen zog.
Aber dann kam die Wende, und alles wurde anders. Weil die Mieten im Osten noch günstiger waren, siedelten die städtischen Wohnungsbaugesellschaften finanzschwache Familien aus dem Westen der Stadt in Buch an, um die Kassen zu entlasten. Viele dieser Familien wohnen bis heute dort. Auch mehrere Kliniken gibt es noch in Buch, auf einem Campus befindet sich unter anderem ein Zentrum für Molekulare Medizin.
Doch die Akademiker, die hier Jobs haben, wohnen inzwischen wieder in der Innenstadt, pendeln zum Arbeiten nach Buch oder ziehen in eine der neueren Einfamilienhaussiedlungen in der Nähe – oder gleich in eines der drei schicken Wohnquartiere, die in ehemaligen Klinikkomplexen entstanden sind. Diese wirken, auch wenn sie keine sind, manchmal ein bisschen wie Gated Communities. Die schicken Altbauwohnungen kosten dort inzwischen so viel wie in der Innenstadt. Das ist die eine Seite von Buch, wie es heute ist.
Die andere Seite ist, dass die 16.000 Einwohner des Ortsteils im Vergleich zum Rest Berlins relativ alt sind. Nur etwa 18 Prozent von ihnen haben Migrationshintergrund – also nur halb so viele wie im berlinweiten Durchschnitt.
Lange Hochburg der Nazis
Lange galt Buch als Hochburg der Nazis im Norden. Noch 2015 demonstrierte die NPD hier gegen ein Flüchtlingsheim, 2016 brannte es sogar. In der Schlossparkpassage, der einzigen Einkaufsstraße Buchs, kann man müde Menschen in Arbeitskleidung sehen, die sich nach Schicht die billigste Nudelbox für 2,50 Euro holen, während sich am Biomarkt gegenüber die parkenden Lastenräder aufreihen.
Nur 15 Gehminuten von zwei Privatschulen im Ludwig-Hoffmann-Quartier entfernt befindet sich die Hufeland-Schule. „Das ist eine von drei Schulen in Berlin“, weiß Martyn Sorge, „wo fast alle Schüler per Los hingekommen sind.“ Wer in Berlin nach der Grundschule keinen Platz auf der Wunschschule bekommt, muss mitunter zwangsweise durch die halbe Stadt und in Problemkieze pendeln. Aufgrund sozialer Verwerfungen wie dieser erhält Buch Sondermittel von der Stadt, um beispielsweise eine Volkshochschule zu bauen.
Es knirscht und knackt also gewaltig in Buch, Entmischung auf kleinstem Raum ist das Stichwort. Ob das sowohl Senat als auch Architekten bedacht haben, als sie entschieden, den Ortsteil ab 2026 auf einen Schlag um 50 Prozent zu vergrößern? Wie werden sich die Neuen auf ihren gespaltenen Kiez einlassen? Wie wollen Architekt*innen und Senat verhindern, dass zwischen zwei Ghettos nicht einfach ein neues Ghetto entsteht?
Viele Menschen in Buch sagen: Wer hier zu dicht baut und zu hoch, wer wenig Luft und Licht dazwischen lässt, wer außerdem auch noch die Autos raushalten will, der baut auch nicht für die Mittelschicht, die Buch dringend braucht. Auch, wenn Gisela Neunhöffer sonst ein eher skeptischer Mensch zu sein scheint: Sie ist davon überzeugt, dass es Buch auch guttun würde, wenn neue Leute kämen und Wohnungen entstünden – wenn es nicht so viele sind und wenn die Planung sich gut einpasst in das, was ist. Überall hat die Initiative Unterschriften von Anwohner*innen gesammelt, auch vor den Discountern, in allen sozialen Schichten, wie Neunhöffer sagt. „Die Kritik an der Bebauungsplanung, wie sie jetzt ist, fand viel Zuspruch“, sagt sie. Aber die Leute machten sich eben auch Sorgen um die knappen Wohnungen und hohen Mieten.
Am Donnerstag haben Gisela Neunhöffer und ihre Mitstreiter*innen dem Berliner Abgeordnetenhaus 4.581 Unterschriften gegen zu dichte Bebauung überreicht.
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