Nepal im Wandel: Die Frauen werden selbstbewusster
Vor allem Frauen profitieren von den Veränderungen in Nepal. Sie gründen Kooperativen, engagieren sich für weibliche Häftlinge und ihre Kinder - oder fahren einfach Mountainbike.
Auf den ersten Blick erscheint die 16-jährige Sangita wie die meisten Mädchen in ihrem Alter. Sie ist groß gewachsen, kleidet sich am liebsten in Jeans und T-Shirt und mag die Schule nicht besonders. Sich zu konzentrieren fällt ihr schwer. Stattdessen träumt sie davon, Kosmetikerin oder Masseurin zu werden. Doch ihr Lächeln wirkt traurig; mit zusammengepressten Lippen erweckt sie den Eindruck, als müsse sie sich ständig beherrschen, um nicht zu explodieren. Ihre Geduld ist rasch erschöpft, und bisweilen peinigen sie epileptische Anfälle.
Schon vor ihrer Geburt war der Stab über Sangita gebrochen. "Wenn es ein Mädchen wird, verlasse ich dich", hatte der Vater ihrer Mutter unverblümt erklärt. Mädchen - das ist wie Wässern von Nachbars Garten, sagt die hinduistische Tradition. Mädchen gelten als Belastung für die Familie: Erst werden sie großgezogen und später muss man eine stattliche Mitgift aufbringen, um sie verheiraten zu können.
Sangitas Vater blieb, doch die Ehe wurde zur Hölle. Die Mutter sollte dafür büßen, dass sie "nur" ein Mädchen zur Welt gebracht hatte. In einer von vielen Auseinandersetzungen erschlug jedenfalls Sangitas Großvater seinen gewalttätigen Schwiegersohn und tauchte danach unter. Damit der Tod nicht ungesühnt blieb, verhaftete die Polizei Sangitas Mutter Mahda. Sechs Jahre war das Mädchen damals alt und hätte die Gefängniszelle mit ihrer Mutter teilen müssen - wenn nicht Prisoners Assistance Nepal (PA) auf sie aufmerksam geworden wäre, eine landesweite Organisation für Kinder, deren Angehörige im Gefängnis sitzen.
Keine Privatsphäre
Was Sangita in ihren ersten Lebensjahren erlitten hat, weiß niemand so genau. "Wir haben nicht die Möglichkeit, ihr eine professionelle Therapie anzubieten, deshalb ist es besser, ihre Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen", meint ihre Betreuerin Indira Ranamagar. Sie ist die Gründerin von PA und für Sangita wie eine Mutter.
Bis heute lebt Sangita bei Indira Ranamagar. Das dreistöckige, unauffällige Haus im Westen von Kathmandu ist nur durch eine Toreinfahrt zu erreichen, obwohl es in keiner reichen Gegend liegt. "Eine Sicherheitsmaßnahme", sagt Indira Ranamagar. Sie lebt dort mit 45 Kindern zwischen 2 und 17 Jahren. Wie in einer großen Familie geht es zu, doch das ist eher beschönigend. Niemand kann ein eigenes Zimmer beanspruchen, auch nicht Sangita. Ihre Privatsphäre ist eine Matratze, die sie mit einem Teddy teilt. Das ist ihre Form, sich ein wenig Idylle zu schaffen; und der Teddy bleibt auch ruhig, wenn sie mal tobt.
Indira Ranagamar versichert ebenfalls, dass sie die fehlende Privatsphäre nicht vermisst: "Die Kinder sind mein Leben, und wenn ich sie lächeln sehe, entschädigt mich das für alles." Über den sozialen Einsatz hinaus ist es ihr Anliegen, Vorurteile gegenüber Häftlingen abzubauen. Immerhin haben PA und andere Organisationen bereits durchgesetzt, dass Kinder nur noch gemeinsam mit ihren inhaftierten Müttern untergebracht werden, nicht mehr mit den Vätern, weil es in Männergefängnissen häufig zu Übergriffen kam. Etwa 50 Kinder befinden sich derzeit noch in Gefängnissen, einige wurden dort geboren.
Das Engagement von PA passt zu dem zögerlichen Wandel in dem Himalaja-Staat. Jahrhundertelang war Nepal wirtschaftlich, politisch und kulturell von Indien abhängig. Heute hofft das Land auf mehr Eigenständigkeit, indem es zwischen den beiden Großmächten laviert. Allerdings sind über zwei Jahre nach dem Ende der Monarchie die großen politischen Parteien - die Maoisten (CPN), die Vereinigten Marxisten-Leninisten (UML) sowie der bürgerliche Kongress - völlig zerstritten. Keine Gruppierung schafft es, das parteipolitische Gezänk außer Acht zu lassen, so dass es seit Monaten keine handlungsfähige Regierung gibt. Die Korruption grassiert, die Infrastruktur verbessert sich nicht, stundenlang wird selbst in der Hauptstadt der Strom abgestellt. Die Enttäuschung über die Stagnation in Nepal ist groß, doch sie führt nicht unbedingt zum Rückzug ins Private.
Auffallend ist das wachsende Selbstbewusstsein der Frauen überall im Land. Pokhara, die zweitgrößte Stadt, nach einem Mountainbike-Rennen. Eine der Teilnehmerinnen macht sich mit dem Bus auf den Heimweg nach Kathmandu. Während die westlich gekleidete Frau ihr Rad auf dem Dach des Busses unterbringen will, wird sie von einigen Jugendlichen angepöbelt. Weit kommen sie jedoch nicht. Mit schneidender Stimme fährt die etwa 40-Jährige die Jugendlichen an. Selbst ohne Nepali-Sprachkenntnisse wird deutlich, dass sie ihnen eine deutliche Lektion erteilt. Und tatsächlich kuschen die Jungs wie geprügelte Hunde. Was sie denn gesagt habe? - "Ich habe ihnen einfach nur klargemacht, wie ungehörig es ist, eine Frau so respektlos zu behandeln. Und wenn sie später einmal Verantwortung tragen wollen, dann müssen sie zunächst einmal respektvollen Umgang lernen." Es hat geklappt. Für den Rest der Reise behandeln die jungen Männer die resolute Radfahrerin mit dem größten Respekt.
Stagnation und Selbsthilfe
Nepal ist ein Bergland, doch leben die meisten Nepalesen im ländlichen Süden. Das Terai, wie das Gebiet genannt wird, entspricht nicht dem gängigen Bild von Nepal. Nach Norden reicht der Blick bis zum Himalaja-Zentralmassiv, doch das Terai selbst ist flach, der üppige Monsunregen ermöglicht Reis- und Gemüseanbau. Wenn in den Bergen die Pässe bereits verschneit sind, steigen die Temperaturen oft noch auf 30 Grad.
Das Terai war nicht immer so einladend. Bis in die 1950er Jahre hinein beherrschten Malariamücken das Gebiet; nur die einheimischen Tharu waren dagegen immun. In den letzten Jahrzehnten wurde der Erreger weitgehend ausgerottet, und so sieht sich das Land einem starken Zuzug von Siedlern aus den Bergen sowie aus Indien ausgesetzt, was zu sozialen Spannungen geführt hat. Heute lebt im Terai etwa die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner Nepals, obwohl es nur 14 Prozent der Staatsfläche ausmacht.
Wer in den Distrikt Chitwan kommt, besucht meist den berühmten Nationalpark, nicht Orte wie das Dorf Baheri, in denen es nichts gibt außer einer staubigen Straße und Häusern aus Bambus, die von Reisfeldern und Bananenstauden umgeben sind. Auch Männer sind rar in Baheri. Die meisten verdienen in den Golf-Emiraten, in Malaysia oder bei den Streitkräften ihr Geld.
Die zurückgebliebenen Frauen warten jedoch nicht auf die Überweisungen ihrer Männer. Sie haben Kooperativen gegründet, um ihre Erzeugnisse besser vermarkten zu können.
Sich zu organisieren und ohne Männer über den häuslichen Bereich hinauszugehen, ist ungewöhnlich für die traditionelle Hindugesellschaft: "Wenn Männer bei uns mitmachten, würden sie versuchen, die wichtigen Funktionen an sich zu reißen. Da bleiben wir lieber unter uns", erklärt selbstbewusst Bimala Darai. Sie ist Vorsitzende einer Fischerei-Kooperative in Baheri. Frau Darai setzt auf die Zucht von Silberkarpfen, denn die wachsen rasch und sind begehrt auf den Märkten. Allein von der Fischzucht kann das Dorf jedoch nicht leben. Natürlich wird daneben auch Reis angebaut, außerdem versprechen Tomaten, Bohnen, Rettich, Zwiebeln und Kohl, aber auch Chili, Knoblauch, Koriander und andere Gewürze eine reiche Ernte.
Den Weg nach Baheri haben auch die Mitarbeiter von RRN (Rural Reconstruction Nepal) gefunden, einer regierungsunabhängigen Organisation. Sie führen Trainingsprogramme durch, um den Bauern zu helfen, von Pestiziden auf organischen Dünger umzusteigen. Das Interesse daran ist groß, auch wenn es zunächst ein mühsames Unterfangen ist, mit Kompost und Insekten ähnliche Resultate zu erzielen wie mit Chemikalien. Ein Argument indes überzeugt: Es ist auf lange Sicht Dauer billiger. Und was sind ihre Wünsche, wenn die Produktion günstiger und der Absatz besser wird? "Mit dem zusätzlichen Geld können wir unsere Kinder auf bessere Schulen schicken", antwortet Bimala Darai spontan.
Die Arbeitsmigration stärkt aber nicht nur das Selbstbewusstsein der Frauen, sie verändert auch still und unspektakulär die ganze Gesellschaft: "Wenn der Dorfschmied oder der Bauer ins Ausland gehen und nach einigen Jahren mit ihrem Erspartem zurückkehren, dann wächst dadurch ihr Einfluss", erklärt Vishwaraj Gyawali, der im Reisesektor arbeitet. "Durch ihre Erfahrung werden sie wichtiger als der Brahmane, der am Althergebrachten festhält. Auch in Nepal ist Geld ein bestimmender Faktor geworden." Vishwaraj Gyawali weiß, wovon er spricht. Er ist selbst ein Brahmane, der aber die Zeichen der Zeit erkannt hat und nicht am Althergebrachten festhält. Raj, wie ihn alle nennen, setzt auf sozial- und umweltverträglichen Tourismus. Sein Unternehmen bietet Touren inklusive Yoga und Ernährungsberatung an, führt Ausländer zu Schamanen und vermittelt Freiwillige in Umweltprojekte. "Die Wirtschaft hat schon immer für den effektivsten Wandel gesorgt. Wer das nicht versteht, hat verloren," sagt er.
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