piwik no script img

Nazijäger Der Hamburger Jurist, Filmkritiker und Schauspieler Dietrich Kuhlbrodt hat als Staatsanwalt versucht, Nazi-Verbrechen vor Gericht zu bringen. Dass das so selten gelang, hält er für keinen Zufall„Scheiße, du kennst sie alle“

Provoziert gern: Dietrich Kuhlbrodt in seinem Haus in Hamburg-Blankenese. Unten: Stoff für den Filmkritiker und Kuhlbrodt im „Chance 2000“-Shirt mit seiner vor zwei Jahren gestorbenen Frau Brigitte   Fotos: Miguel Ferraz

Interview Friederike Gräff

taz: Herr Kuhlbrodt, war es Zufall oder Absicht, dass Sie als junger Staatsanwalt begonnen haben, Nazi-Verbrechen zu verfolgen?

Dietrich Kuhlbrodt: Da muss ich etwas ausholen. Ich hatte Anfang der 60er-Jahre, als ich mit dem Jurastudium fertig war, zwei Möglichkeiten. Seit 1957 schrieb ich Filmkritiken und hätte Spiegel-Redakteur werden können. In dem Moment meldete sich ein Behördenleiter der Staatsanwaltschaft bei mir und sagte, er kenne meine Kolumnen und hätte gern, dass ich in seine Behörde käme, um, wie er sagte, „das Image der Behörde grundsätzlich zu verändern“, indem da nicht nur verfolgungssüchtige Staatsanwälte herumgeisterten.

War es damit entschieden?

Da dachte ich: Das ist klar ein Fall für die Staatsanwaltschaft, in die ich dann sozusagen als Journalist undercover reingehe. Der Behördenleiter war ein Freund von Fritz Bauer, dem Generalstaatsanwalt, der die Ausch­witzprozesse mit angestrengt hat. Der Behördenleiter wurde mein Mentor, aber von seinen Untergebenen wurde ich, weil ich als unpassend empfunden wurde, nach wenigen Monaten nach Ludwigsburg zur Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen wegbeordert.

Gingen Sie gern dorthin?

Ich hatte eine gewisse Affinität, aber es war nicht mein Wunsch, zu dieser Stelle zu kommen.

War es ein Ort, an den damals niemand wollte?

Das kann man so nicht sagen. Ich war offen und neugierig, was da passieren würde. Aber es war eine völlig ineffektive Stelle. Wir hatten nicht das Recht, Anklagen zu schreiben, sondern konnten nur für die Polizei ermitteln und die Ermittlungsergebnisse zur Erhebung der Anklage an Staatsanwaltschaften abgeben, die überhaupt keinen Bock hatten, das zu bearbeiten: Es waren aufwendige Sachen und so eine Staatsanwaltschaft aus acht Männeken war heillos überfordert.

Wie haben Sie sich in Ludwigsburg arrangiert?

Man wurde für ein Jahr abgeordnet und dann wieder zurückgenommen. Man machte eine Akte auf, vielleicht Band Nummer eins von dreißig, um sich einzulesen, was die Einsatzkommandos im Osten gemacht hatten – das schaffte man nicht innerhalb eines Jahres, dann war man wieder weg und der nächste fing wieder auf Blatt eins an. Ich behaupte, das war absichtlich so organisiert. Man konnte gegenüber den jüdischen Organisationen etwa in New York behaupten: Wir haben da unsere Leute, die das machen. Aber in Wirklichkeit war das ein läppisches Werk, abgesehen davon, dass uns auch ganz gezielt Steine in den Weg gelegt wurden.

1967 wurde beschlossen, dass man nur noch dann Anklage erheben durfte, wenn man Mord oder niedere Beweggründe sicher nachweisen konnte. Was bedeutete das für Ihre Arbeit?

Es war ein großes Entsetzen bei uns, weil wir zwei Drittel der Akten, die wir angefangen hatten zu bearbeiten, weglegen konnten. Es gab Debatten darüber, ob Rassenwahn nicht ein niederer Beweggrund sein konnte – das musste erst mal in die Reihe der Qualifikationsmerkmale erhoben werden. Als das erreicht war, musste man aber jedem einzelnen individuell nachweisen, dass er niedere Beweggründe hatte.

Wie ging das?

Wir mussten aus der Einheit der Beschuldigten jemanden finden, der zu seinem Ex-Kameraden sagte: Du hast solche Äußerungen gemacht. Solche Leute findet man nicht. Oder er musste in einem Feldpostbrief nach Hause geschrieben haben: „Gut, mal wieder einer weniger von der Rasse.“ Aber wo findet man solche Feldpostbriefe und welche Familie rückt sie raus?

Gab es unter solchen Bedingungen überhaupt irgendwelche Erfolge Ihrer Arbeit?

Ich sage es mal polemisch: Ein Erfolg war, dass der Leiter der Zentralen Ermittlungsstelle schon nach einem halben Jahr abberufen wurde, weil er selbst Teil einer Einsatzgruppe im Osten gewesen war, die Morde an jüdischen Zivilisten begangen hatte. Er wurde übrigens nach oben befördert, aber er war in Ludwigsburg nicht mehr tragbar. Wir waren trotzdem voller Kampfgeist und sagten uns: Wenn das mit der juristischen Technik nicht geht, dann machen wir eben etwas anderes. Es gab einen Kontakt zur „Panorama“-Sendung des NDR, wir sind mit Freuden vor die Kamera getreten.

Gab es da Resonanz?

Eines Tages guckten wir aus dem leer stehenden Gefängnis, in dem wir untergebracht waren, weil da laute Musik zu hören war. Ein Ordenskissen wurde da getragen, dann kam ein Oberpfarrer in Talar, dann kamen Abgesandte der Stadt und ein Zug von Opas. Als sie uns da hinter den Gittern stehen sahen, hoben sie die Faust und schrien: „Wir kriegen euch noch, wir kriegen euch noch.“ Es stellte sich heraus, dass da der Führer der Leibstandarte Adolf Hitler zu Grabe getragen wurde, Sepp Dietrich, eine hochgeachtete Figur in Ludwigsburg, weil er Generalmanager der Bausparkasse war.

Wie haben Sie reagiert?

Damals wurden Akten nicht kopiert wie heute, wir hatten nur die Originale – ein Brandsatz durch die Fenster im Erdgeschoss und alles wäre weggewesen. Also wandten wir uns an das baden-württembergische Kriminalamt. Die sagten: „Ihr müsst eben eure Akten bewachen.“ Wir meinten: „Wir können doch keinen Brandsatz zurückschleudern.“ Da meinten die: „Dann verschafft euch Waffen.“ Wir waren aber weiße Jahrgänge, nie Soldaten gewesen, und konnten nicht mit Waffen umgehen und hatten auch überhaupt keine. Da meinten die Leute vom Kriminalamt: „Wir verkaufen euch welche.“ Dann kaufte ich für 300 Mark eine Sauer & Sohn 765, die ich noch ein Stockwerk höher habe.

Konnten Sie denn schießen?

Eben nicht, wir waren ja weiße, also nicht eingezogene Jahrgänge. Wir meinten: „Wir müssen das einmal üben“, da guckten sich die Leute vom Kriminalamt merkwürdig an und sagten: „Wir zeigen euch einen Schießstand.“ Dann fuhren die im Auto voraus, blieben sitzen und zeigten geradeaus: „Da ist die Schießwand.“ Wir stiegen aus, ich nahm meine Pistole und schoss. Da kamen hinter diesem Schießstand Kinder raus und riefen: „Was macht ihr denn da?“ Es stellte sich heraus, dass dieser Platz eigentlich als Abenteuerspielplatz genutzt wurde, und wenn wir bei unseren Schießübungen ein Ludwigsburger Kind erschossen hätten, kann man sich vorstellen, was das Schicksal unserer Ermittlungsstelle gewesen wäre.

In Ihren Erinnerungen schreiben Sie, dass Ihnen erst in Ludwigsburg klar geworden sei, dass Sie selbst zu den Uniformträgern gehört haben.

Mir wurde klar, dass ich im weitesten Sinn mit drin gewesen bin. Das ist keine Trennung, hier Nazi da und Nicht-Nazi hier, sondern das war eine Gemengelage, aus der man sich hinterher befreien muss.

Es gab einen Fall, in dem Sie die Anklage gegen den Verlobten einer Freundin Ihrer Mutter wegen Euthanasieverbrechen vorbereitet haben. Was hat es für Sie bedeutet, den Mann zu kennen?

Das war vorher natürlich völlig getrennt in meinem Kopf gewesen: Die liebe Tante Ellen, die mit dem Reichsärzteführer oder was er war, zu tun hatte – diese Erlebnisse stiegen mit der Zeit alle wieder hervor und ich dachte, verdammte Scheiße, du kennst sie alle: den Leiter der Kinderabteilung Rothenburgsort, Dr. Bayer, das war dein Kinderarzt. Ein liebevoller Mensch, da hat man ein anderes Bild als wenn man sagt: der hat Kinder­euthanasie betrieben. Gerade habe ich nachgelesen im Tagebuch meiner Mutter: Im ersten Lebensjahr wurde ich vom Kinderarzt Dr. Geckwitz betreut, dem Leiter der Kinderabteilung im UKE, der damals Vollnazi war, später aber eine andere Haltung einnahm und sagte, das läuft völlig schief, bis ein Kollege ihn anzeigte und er von Freisler persönlich zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Es sind diese Verwebungen, die mich immer interessiert haben.

Wie wichtig war unter all diesen Prozessen der um die Alsterdorfer Anstalten für Sie?

Ich habe es mir nicht ausgesucht, das muss man immer bedenken. Als ich am 1. Januar 1968 aus Ludwigsburg nach Hamburg zurückkam, war ich damit beauftragt, Naziverbrechen, für die Hamburg zuständig war, zu verfolgen. Dann bekam ich schon im Laufe des Jahres 1968 eine Anzeige auf den Tisch. Wir konnten nur auf Anzeigen reagieren, diese kam von jemandem, der eigentlich zu den Insassen in Alsterdorf gehörte, aber als Oberpfleger einen Transport begleitet hatte.

Selbst die Ausschnitte aus den Akten lesen sich extrem bedrückend. Wie sehr hat Sie diese Arbeit verfolgt?

Dietrich Kuhlbrodt

82,ist Jurist, Kritiker, Autor und Schauspieler. Ab 1965 arbeitete er als Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart, ab 1968 war er Staatsanwalt in Hamburg. Er machte Projekte unter anderem mit der Gruppe Die Tödliche Doris und mit Christoph Schlingensief, in dessen Filmen er Rollen übernahm. Seit 2011 macht er unter dem Pseudonym „Opa16“ im Künstlerkollektiv HGich.T mit.

Ich habe da nicht mit Hassgefühlen dran gesessen, sondern ich habe nur gesagt: Die kriege ich noch, da habe ich meine Einfälle und dabei war ich voll engagiert.

Was für Einfälle brauchte man?

Dass ich sagte: In Alsterdorf wird ständig gemauert, jetzt nehme ich mir einen Beamten mit und fahre einfach dahin, ohne Durchsuchungsbefehl. Ich bin zur Geschäftsstelle gegangen und habe gefragt: „Wo sind denn die Akten aus der Nazizeit?“ Der hätte ja ohne weiteres sagen können: „Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, außerdem sind die Akten alle verbrannt.“ Den zweiten Satz sagte er so, dann sagte ich: „Aber es ist hier ja nicht alles verbrannt, hier etwa dieses Regal, wenn ich das aufmache, da liegen ja die Akten aus der Kriegszeit alle säuberlich, Karteikästen von jedem einzelnen Pflegling, wo dann hinterher steht: abtransportiert nach da- und dorthin, drei Tage später Todesmeldung.“ Ich sagte: „Das ist ja hochgradig interessant. Wir nehmen die mal mit.“ Und leitete ein Verfahren ein wegen versuchter Strafvereitelung. Da fühlte ich mich in einer Art politischen Aktion.

Wurden Ihnen 1968 in Hamburg weniger Hindernisse in den Weg gelegt als 1965 in Ludwigsburg?

Es war eine Übergangssituation. Die Behörde hat alles abgesegnet, was ich gemacht habe, da hatte ich Glück. Aber die Stimmung in der Öffentlichkeit war: Wann hört das endlich mal auf? Es gab auch einen stellvertretenden Leiter der Justizbehörde, der zu mir kam und sagte: „Diese Anklageschrift gegen den inzwischen pensionierten Senator Struve, das ist doch ein verdienter Beamter gewesen. Wissen Sie, wir in der Justizbehörde haben Ihre Karriere auch immer im Auge gehabt – Herr Kuhlbrodt, das soll auch so bleiben.“

Kurt Struve, der die Euthanasie in Hamburg mit organisiert hat, kam ungeschoren davon. Wie haben Sie das genommen?

Ich war wütend und habe die Akten für die ersten Forscher der Euthanasie freigegeben. Viele andere Verfahren haben zwar mit soundsoviel Jahren auf Bewährung geendet oder die Leute waren nicht haftfähig – aber da redet heute kein Mensch drüber.

Ist es nicht bitter, dass eine echte Beschäftigung mit der Schuld erst dann möglich war, als die Tätergeneration nicht mehr am Ruder beziehungsweise tot war?

Wir haben uns schon in Ludwigsburg gefragt: Hat die Justiz die Alleinkompetenz das aufzuarbeiten? Hallo – da ist doch mehr Öffentlichkeit, da sind doch Kinder, die in der Schule sind. Es wäre doch eine Sache der breiten Öffentlichkeit gewesen, damit umzugehen, stattdessen sagten alle: Wir wollen das Wirtschaftswunder und haben ja die Leute von der Justiz – die de facto nichts bewegen konnten. Unser zynischer Spruch war immer: Wir bringen nichts zustande, die Öffentlichkeit bringt nichts zustande, sie wird auch belogen – dann bleibt nur die biologische Lösung.

Waren Sie in Hamburg ein Außenseiter?

Nö, das war nicht so. Da gab es einen fortschrittlichen, linken Richterverein, mit dem ich immer zusammensaß in der Kantine. Das waren wirklich linksgerichtete Richter. Von außen sieht man das immer als Einheit, was es natürlich nicht ist, wenn man drin ist. Ich habe mich da aber auch nicht verborgen. Die wussten schon alle, wie ich drauf war. 1968, als diese ersten Demos waren, durch die Stadt, da standen die Staatsanwälte im Strafjustizgebäude an der Ecke und beguckten den Zug, der da mit den Spruchbändern vorbeizog. Und da entdeckten die mich auch in dem Demozug. Jemand hatte an der Straße, am Gänsemarkt, wie ich mir das anguckte, gerufen: „Komm Genosse, reih dich ein!“ Und dann habe ich das gemacht und bin mit dem Zug an meinen Kollegen vorbeigezogen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen