: Natur mag keine politischen Spiele
Mit bemerkenswertem Rückhalt in der Bevölkerung sollte im Unteren Odertal in Polen ein neuer Nationalpark entstehen. Doch dann legteder polnische Präsident ein Veto ein
Von Maria Dybcio
Gleich nach dem Fall der Berliner Mauer brachten Wissenschaftler aus Polen und Deutschland die Idee eines gemeinsamen Nationalparks an der Unteren Oder ins Spiel. Es war der Moment, in dem Europa glaubte, dass Grenzen keine Rolle mehr spielen würden.
„Daraus entstand die Vision eines grenzüberschreitenden Nationalparks“, sagt Dirk Treichel, der Direktor des Nationalparks Unteres Odertal auf der deutschen Seite. Allerdings erwies sich die Idee als nicht umsetzbar. Stattdessen sind seitdem zwei Schutzgebiete an der Oder entstanden. 1993 wurde der polnische Landschaftsschutzpark Unteres Odertal gegründet und 1995 auf der deutschen Seite Treichels Nationalpark.
Im Jahr 2022 wurde die Oder zum Schauplatz einer Tragödie. Ein heißer Sommer, ausbleibende Niederschläge und der Eintrag von Salzen aus einem Bergwerk in Oberschlesien beförderten das Wachstum der giftigen Goldalge. Es kam zu einem beispiellosen Fischsterben.
„Als es zur Katastrophe kam, haben wir gesehen, wie wichtig das Zwischenoderland ist“, sagt Ryszard Matecki. „Dieses Netz aus Mooren, Kanälen und Gräben erwies sich als natürlicher Filter und Schutz für die Lebewesen. Die Verluste waren schrecklich, aber sie hätten noch größer sein können.“
Matecki ist Grafiker und Lokalforscher und einer der Initiatoren, die die Idee eines Nationalparks auf polnischer Seite wiederbelebten. „Wir wollten handeln, weil wir uns der Oder gegenüber schuldig gefühlt haben“, erklärt er. Im Februar 2023 traf sich Matecki in Chojna mit einer Gruppe von Umweltschützern, Aktivisten und Künstlern. Sie beschlossen, für den Schutz des Zwischenoderlandes zu kämpfen.
Schnell nahm die Idee Fahrt auf. Im Frühjahr 2024 schlossen sich die Kommunen, der Vizeminister für Klima und Umwelt und die Woiwodschaft Westpommern an. „Dass die Kommunen nahezu einstimmig für den Nationalpark eintraten, galt in Polen als Sensation“, sagt Krzysztof Smolnicki, Präsident der Stiftung EkoRozwoju. Dirk Treichel fügt hinzu: „Als wir von den Plänen eines polnischen Nationalparks gehört haben, spürten wir, dass die Ideen von damals doch noch Wirklichkeit werden könnten.“
Doch dann geriet der geplante Nationalpark mitten in den Wahlkampf zu den polnischen Regionalwahlen. Die nationalkonservative PiS wollte ihn um jeden Preis verhindern. Im Netz war vom „deutschen Einfluss“ die Rede und von einer Bedrohung für die Schifffahrt.
„Der Nationalpark wurde auf zynische Weise dazu benutzt, den Leuten Angst zu machen“, sagt Ryszard Matecki. Das schwerwiegendste Argument lautete, er würde den wirtschaftlichen Interessen Polens schaden. Allerdings liegen die beiden wichtigsten Wasserstraßen, die Ostoder und die Westoder, außerhalb der geplanten Nationalparkkulisse. Die Oder wäre weiter befahrbar gewesen.
Sorge um die Schifffahrt
Zu den Gegnern gesellte sich auch der polnische Präsident. Bei einem Termin in Gdynia sagte Karol Nawrocki: „Wieder einmal haben wir es mit den Aktivitäten pseudoökologischer deutscher Organisationen zu tun. Der Versuch, einen Nationalpark zu gründen, beunruhigt mich.“
Zur gleichen Zeit wurde Ryszard Matecki zur Zielscheibe von Angriffen in den sozialen Medien. Seine deutschen Bekannten warnte er: Besser, ihr sprecht nicht öffentlich über den polnischen Nationalpark, eure Worte könnten gegen uns verwendet werden.
Im September dieses Jahres fand in Gryfino eine Konferenz der PiS statt, die Nawrocki als Präsidentschaftskandidaten nominiert hatte. Dabei war davon die Rede, dass der Nationalpark ein „politisches Instrument“ sein könnte. Unter den Rednern war auch der ehemaligen Chef der polnischen Wasserbehörde, Przemysław Daca, der nach der Verharmlosung der Umweltkatastrophe in der Oder 2022 zurücktreten musste.
Trotz des Gegenwinds passierte das Gesetz zum Nationalpark im September den Senat und den Sejm in Warschau. Nun stand nur noch die Unterschrift des polnischen Präsidenten aus. Schon damals fürchteten manche, dass Nawrocki seine Unterschrift verweigert.
Am 7. November legte der Präsident sein Veto ein. In seiner Begründung wiederholte er die Argumente der Gegenkampagne: das schnelle Tempo bei der Entscheidung, fehlende Untersuchungen, mangelnde Bürgerbeteiligung. Nawrocki zufolge bedeutete der Park nicht nur eine Schwächung der Wirtschaft Polens. Er würde sich auch negativ auf das Alltagsleben im Grenzgebiet auswirken.
Allerdings zeigt das deutsche Beispiel, dass ein Nationalpark durchaus positiven Einfluss auf die Region haben kann, auch wenn nicht alles gleich rund läuft. Ein Großteil der Schutzflächen befand sich damals in Privatbesitz. Ihr Erwerb durch einen eigens gegründeten Verein führte zu Konflikten in der Region. Über zehn Jahre lang gab es Proteste, Petitionen und Demonstrationen.
„Wir haben das Nationalparkgesetz dann zusammen mit den Anwohnern 2006 novelliert“, sagt Leiter Dirk Treichel. „Alles, was in der Region angesprochen wurde und im Hinblick auf die Ziele eines Nationalparks an Kompromissen machbar war, wurde Teil des Gesetzes. Das war der Punkt, an dem der Nationalpark Teil der Region wurde und nicht mehr ihr Feind war.“
Heute besuchen den Nationalpark Unteres Odertal jährlich 200.000 Menschen. Wegen der Nähe zu Berlin und Stettin ist sein Potenzial jedoch ungleich größer. Seine Schutzfunktion erfüllt er aber schon jetzt. Seit der Gründung sind zahlreiche natürliche Prozesse zu beobachten: Zum Beispiel die Regeneration ehemals bewirtschafteter Wiesen und Weiden sowie die Wiederbesiedlung durch Wildtiere, die in der Aue nicht mehr bejagt werden.
Wie weiter nach dem Veto in Polen?
Das Ministerium für Klima und Umwelt in Warschau hat inzwischen erklärt, weiter um den Nationalpark kämpfen zu wollen und einen Plan B angekündigt. So könnte etwa der Nationalpark Wolin um das Zwischenoderland erweitert werden.
Zahlreiche Städte, darunter Stettin, haben bereits ihre Zustimmung signalisiert. Andere Städte wiederum fordern weiterhin ein Gesetz über einen eigenständigen Nationalpark. Gleichzeitig soll das Gesetz hinsichtlich der räumlichen Kulisse eines künftigen Schutzgebiets präzisiert werden.
Ryszard Matecki betont, dass die Realisierung des Plans B durchaus möglich sei. Allerdings erfordere das eine effektive Koordination durch das Ministerium sowie eine transparente Kommunikation unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft vor Ort.
Jedoch sagt Matecki auch: „Solange wir die bisherigen Schritte nicht evaluiert haben und nicht analysieren, wo wir Fehler begangen haben, werden wir eine Erweiterung eines anderen Nationalparks um das Untere Odertal nicht unterstützen.“
Der Rückhalt für die Nationalparkidee ist nach wie vor groß. Eine Umfrage vom Oktober 2025 ergab, dass 70 Prozent aller Polinnen und Polen das Vorhaben unterstützen. In den Landkreisen, auf deren Gebiet der Park entstehen soll, beträgt die Unterstützung sogar 84 bis 94 Prozent.
Auch die Initiative Osoba Odra, die die Oder als Rechtssubjekt anerkennen möchte, hat sich inzwischen zu Wort gemeldet. „Die Natur hat keine Zeit für politische Spielchen. Jede Verzögerung würde weitere Umweltzerstörungen nach sich ziehen.“
Drei Jahre nach der Katastrophe ist die Lage an der Oder weiterhin angespannt. Das Wasser, das aus den Kohlegebieten in Oberschlesien kommt, ist manchmal noch salzhaltiger als das der Ostsee. Das Risiko einer erneuten Algenblüte bleibt bestehen. Die Verunreinigungen haben auch Einfluss auf das Zwischenoderland. Die Erholung des Ökosystems könnte sich verlangsamen.
„Den Schaden haben die Umwelt und die an der Oder lebenden Menschen“, sagt Krzysztof Smolnicki. „Schon jetzt sagen viele, dass es sich nicht mehr lohne, an die Oder zu gehen. Es ist also höchste Zeit, sich der Oder wieder zuzuwenden.“
Gleichzeitig hat sich die Haltung der Zivilgesellschaft verändert. Die Zahl derer, die sich um den Fluss kümmern, steigt rasant. „Damit steigt auch der Druck für greifbare Veränderungen“, sagt Smolnicki.
Die Kampagne gegen den Nationalpark hat nicht nur der Natur Schaden zugefügt, sondern auch den deutsch-polnischen Beziehungen. Die antideutschen Parolen blieben nicht ohne Wirkung. Das aktuelle deutsch-polnische Barometer zeigt, dass die Sympathien der Polen gegenüber Deutschen auf den niedrigsten Wert seit 20 Jahren gefallen sind.
Trotz der Spannungen aber ist die Zusammenarbeit auf beiden Seiten der Oder weiter gelebte Praxis. Die Mitarbeiter der Landschaftsschutzparks stehen in ständigem Kontakt mit dem deutschen Nationalpark.
„Ich bin überzeugt davon, dass der polnische Nationalpark Wirklichkeit wird und dass es in Zukunft sogar einen grenzüberschreitenden Nationalpark gibt“, sagt Dirk Treichel. „Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen. Aber die Natur ist geduldig.“
Aus dem Polnischen von Uwe Rada
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