Nationalismus in Belgien: 1:0 im Fernduell
Belgiens hochgelobtes Team kämpft bei der WM nicht nur um einen Titel. Es tritt auch gegen die flämisch-separatistischen Kräfte an.
Die Fieberkurve lügt nicht, und sie weist nach oben: Nie hatte ein Fußballspiel in Belgien bessere Einschaltquoten als jenes schwerfällige 2:1 gegen Algerien. Bei 80 Prozent lag der Marktanteil, in der Schlussphase gar bei 84 Prozent. Das passt ins Bild eines nie gesehenen Hypes um die belgische Auswahl, der dieser Tage den glückseligen Taumel der Qualifikation noch übertrifft.
Sogar der Abschied am Flughafen Brüssel-Zaventem wurde per Livestream übertragen, und die Websites der großen Zeitungen hielten am Tag der Anreise exakt fest, wann das Team in Dakar zwischenstoppte, weiterflog und in São Paulo landete.
Dass die Premiere recht holprig verlief, tut dem Enthusiasmus nach der langen Enthaltsamkeit keinen Abbruch. Schließlich hatte das Gerede vom „Geheimfavoriten im Ausland“ immer mehr Konjunktur als in Belgien, wo viele das junge Team erst zur EM 2016 auf dem Zenit erwarten. „Das Land badet dieser Tage in Schwarz-Gelb-Rot“, schrieb das Magazin Knack, und konstatierte „patriotische Gefühle“ wie noch nie. Das Blatt, des Nationalismus unverdächtig, nennt die WM „gut gegen Versäuerung“ und eine willkommene „Flucht aus der Wirklichkeit“.
Gut möglich, dass sich dies auf die politische Lage des Landes bezieht: im Mai, just als die Diables Rouges alias Rode Duivels sich den letzten Schliff für Brasilien holten, gewann die flämisch-nationalistische Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) haushoch die Parlamentswahlen.
Zentrifugalkräfte des Landes
Ein unabhängiges Flandern ist ihr Ziel. So stark werden die Zentrifugalkräfte des Landes mit seiner heiklen Sprachproblematik, dass man unweigerlich an ein altes Sprichwort denkt. Demnach wird Belgien nur noch zusammengehalten durch: flüssigen Kitt (Bier), fettigen Kitt (Fritten), den kitschigen (Königshaus) – und eben den kickenden Kitt.
Die vermeintliche goldene Generation des belgischen Fußballs erfüllt diese Funktion nicht nur auf dem Platz, sondern auch inhaltlich. Da ist Marc Wilmots, der zwischen seiner aktiven Laufbahn und der jetzigen als Coach Senator des liberalen Mouvement Réformateur war.
Es ist kein Geheimnis, dass sich Wilmots zu Belgien mit seinen französisch-niederländisch- und deutschsprachigem Hintergrund bekennt. Im hiesigen Diskurs nennt man Wilmots einen „belgicist“. Dass dies antizyklisch ist zur Grundströmung im Norden des Landes, hat ihn noch nie beeindruckt.
Nicht nur auf dem Feld ist Kapitän Vincent Kompany Wilmots’ verlängerter Arm. Auch er bezieht klar Stellung gegen die Nationalisten. Ein Politiker der N-VA konterte vor der Wahl, Kompany – weithin bekannt als intelligent und eloquent – verdanke seine fundierte Bildung dem flämischen (sprich: nicht dem frankofonen) Unterricht seiner bilingualen Heimatstadt Brüssel.
Erdrutschsieg der N-VA
Zwischen der Spannungskurve der Kicker und jener der Nationalisten kam es schon in der WM-Qualifikation zu zeitlichen Überschneidungen: Wenige Tage nach dem Erdrutschsieg der N-VA bei den Kommunalwahlen 2012 gewann das Team ein wichtiges Qualifikationsspiel gegen Schottland. Das Banner „Bart, tonight you are alone“ im Fanblock des König-Balduin-Stadions, gemünzt auf N-VA-Chef Bart De Wever, ging um die Welt.
Seit die Brasilienmission wie der Teufel läuft, hat sich die Schlagzahl noch erhöht: Am Dienstag letzter Woche verlängerte König Philippe De Wevers Auftrag, nach einer Koalition zu suchen. Die Fußballer saßen derweil im Flieger über dem Atlantik. Eine Woche darauf gewährte der Monarch De Wever erneut Verlängerung, nur ein paar Stunden vor der Premiere gegen Algerien.
Kommenden Dienstag muss De Wever wieder zum Rapport. Möglicherweise haben Kompany und sein Team nach dem Spiel gegen Russland am Sonntag (18 Uhr, MEZ, ZDF) dann schon das Achtelfinale erreicht. Über De Wevers Fortschritte gibt es derzeit keine Informationen. Es scheint, als seien die Teufel dem 1:0 im Fernduell näher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles