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Nationale Legenden

Eine in der Hamburger Edition erschienene Untersuchung widmet sich dem „Geist von 1914“  ■ Von Dominik Nagl

Als die große „Urkatastrophe dieses Jahrhunderts“ galt dem amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan der Erste Weltkrieg. Lange Zeit wurde dieser deshalb allein im Zeichen der Kriegsschuldfrage diskutiert. 1961 löste der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht den ersten „Historikerstreit“ der Bundesrepublik aus, indem er gegen seine konservativen Kollegen die deutschen Eliten für den Ausbruch des Krieges verantwortlich machte. Ein Gutes hatte diese Diskussion immerhin: Heute wird kaum noch an Deutschlands Verantwortung gezweifelt, wenngleich auch der britische Historiker Niall Ferguson erst letztes Jahr mit der Talkshow-kompatiblen These provozieren konnte, nicht Deutschland, sondern England sei in erster Linie für den Ausbruch des Kriegs zur Rechenschaft zu ziehen.

Unabhängig davon hält sich bis heute im historischen Bewusstsein hartnäckig die durch zahllose Memoiren und literarische Werke kolportierte Vorstellung, die Volksmassen hätten in einem Taumel nationalistischer Euphorie alle trennenden Barrieren hinter sich gelassen und zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengefunden. Neuere Untersuchungen jedoch zeigen, dass von einem einheitlichen „Augusterlebnis“ keine Rede sein kann. Was bisher fehlte, so Jeffrey Verhey in seinem jetzt bei der Hamburger Edition erschienenen Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, war eine Gesamtdarstellung der öffentlichen Meinung in Deutschland im Juli und August 1914. Aufgrund des äußerst problematischen Status von archivierten Briefen, Tagebüchern und Memoiren, die vorwiegend von Angehörigen der oberen Schichten verfasst wurden, bedient sich Jeffrey deshalb dabei in der Hauptsache Zeitungsartikel.

Der Rückschluss von der veröffentlichten Meinung auf die öffentliche Meinung ist zwar nicht immer umstandslos möglich, aber Verhey zufolge lassen die Leitartikel einer Reihe von Zeitungen sich dennoch als „eine Art Seismograph zur Registrierung der verschiedenen Strömungen in der öffentlichen Meinung“ verstehen. Außerdem finden sich in Zeitungsartikeln und Polizeiberichten Beschreibungen von Volksaufläufen, die zumindest einen Anhaltspunkt für das tatsächliche Massenverhaltens bilden könnten.

Sein Befund: Die Bevölkerung reagierte sehr viel unterschiedlicher auf den Beginn des Krieges als bislang unterstellt. Während bei der Arbeiterschaft und Landbevölkerung überhaupt nicht von einer Kriegsbegeisterung gesprochen werden kann, erfasste sie in den Großstädten vor allem Jugendliche und die besseren Schichten. Auch bei den polnischen, französischen und dänischen Minderheiten lassen sich keine Anzeichen einer Kriegsbegeisterung finden.

Dass es Verhey dabei nicht um einen Revisionismus der Schuldfrage, sondern der Legendenbildung geht, wird im zweiten Teil seines Buches deutlich. Schon unmittelbar zu Beginn des Krieges begannen konservative Zeitungen damit, ihren Mythos vom „Geist von 1914“ zu verbreiten. Ihm zufolge habe sich die Arbeiterschaft angesichts der äußeren Bedrohung von ihren revolutionären Überzeugungen abgewandt und sich zu dem durch den Kaiser repräsentierten monarchischen System bekannt. Die Sozialdemokratie bemühte ihn, um ihre Forderung nach politischen Reformen zu untermauern – eine Einschätzung, die progressive Liberale wie Friedrich Naumann teilten. In der Propaganda der militärischen Führung erfüllte der Appell an den „Geist von 1914“ die Funktion, den Durchhaltewillen des Volkes trotz einer aussichtslosen Übermacht von Feinden zu mobilisieren. Außerdem konnte er als Symbol einer idealisierten nationalen Gemeinschaft helfen, die Opfer des Krieges zu rechtfertigen.

Nach dem Krieg profitierte er vom Niedergang der identitätsstiftenden Grundvorstellungen der wilhelminischen Zeit und setzte unter der Bezeichnung „Volksgemeinschaft“ seine Erfolgsgeschichte fort. Auf ihn schienen sich außer der radikalen Linken noch alle politischen Lager als Symbol der Nation einigen zu können. Die National-sozialisten setzten den „Geist von 1914“ schließlich am wirkungsvollsten für ihre Zwecke ein.

So quellenreich Verhey die Karriere des Begriffs auch aus den Kriegsereignissen ableitet, scheitert seine unter der Prämisse von der Notwendigkeit einer jeden Mythologisierung geführten Untersuchung gerade an dieser „Urszene“. Sein Blick verschließt sich vor den Kontinuitäten jener nationalistischer Debatten, die weit in die Kaiserzeit zurückreichen – und die dem „Geist von 1914“ erst einen einen fruchtbaren Boden bereiteten.

Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburger Edition, Hamburg 2000, 416 Seiten, 58 Mark

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