Nationale Alleingänge in Coronazeiten: Eine dritte Macht namens Europa
Eine gemeinsame europäische Antwort auf Corona ist dringend nötig. Sonst droht die EU zurückzufallen.
T homas Mann ermahnte 1953 in seiner berühmten Hamburger Rede die Deutschen, aus der Vergangenheit zu lernen und nie wieder nach einem „deutschen Europa“ zu streben. Er ermutigte uns, stattdessen mit Kraft und Mut ein „europäisches Deutschland“ aufzubauen. Deutschland ist diesem Ziel in den seither vergangenen knapp 70 Jahren sehr viel näher gekommen. In den letzten zehn Jahren wurde Europa aber von einer Reihe von Krisen gebeutelt und zunehmend gespalten.
Dabei kam die existenzielle Bedrohung für Europa nicht nur von innen. Denn der zunehmende Systemwettbewerb zwischen den USA und China gefährdet Europas Einheit, die Freiheit, gemeinsame Werte und den wirtschaftlichen Wohlstand.
Nach der deutschen Wiedervereinigung, der EU-Osterweiterung sowie der Umsetzung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion schien Europa in den 1990er und 2000er Jahren auf einem vielversprechenden Weg zu sein. Dieser Prozess kam mit der globalen Finanzkrise 2008 zu einem jähen Ende. Die 2010er Jahre waren gekennzeichnet von Krisen und Rückschritten, die Europa heute wieder stärker spalten und polarisieren.
Die Finanzkrise wuchs zu einer europäischen Wirtschaftskrise, die zu einer tiefen Nord-Süd-Spaltung, wirtschaftlich wie sozial, führte. Dann kam die Flüchtlingskrise 2015, die wiederum fast überall in Europa von nationalen Alleingängen geprägt war. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU war nur der Höhepunkt eines zunehmenden Nationalismus und Protektionismus fast überall in Europa.
Marcel Fratzscher, 49, ist einer von Deutschlands bekanntesten Ökonomen. Er leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin
Neue Spaltung Europas
Nun steckt Europa mitten in der Bekämpfung der Coronapandemie, und die Staaten verfolgen wiederum einen zuallererst nationalen Kurs. Grenzen wurden geschlossen, es gab Ausfuhrverbote für Schutzkleidung, Medikamente und Nahrungsmittel. Während in Italien und Spanien viele Menschen in Krankenhäusern an dem Virus starben, weil es nicht genug Beatmungsgeräte gab, sind andere Länder, vor allem Deutschland, viel besser durch die Krise gekommen. Vielen Italienerinnen und Italienern bleiben jedoch die Bilder von chinesischen oder kubanischen Ärzteteams und russischen Lastwagen mit Hilfsmitteln eher im Hinterkopf als Hilfe aus Deutschland.
Die neue Spaltung Europas findet sich nicht nur im Gesundheitssektor, sondern auch in Wirtschaft und Politik. Selten zuvor waren so viele Menschen in Europa so skeptisch gegenüber europäischen Institutionen und so feindselig gegenüber ihren Nachbarn eingestellt. Vor allem in Südeuropa hat die Skepsis gegenüber Deutschland zugenommen. Während Deutschland wirtschaftlich goldene 2010er Jahre erlebte, sind die Volkswirtschaften Südeuropas geschrumpft. Eine ganze Generation junger Menschen in Italien und Spanien droht nach zwölf Jahren hoher Arbeitslosigkeit die Zukunftsperspektive zu verlieren.
Kurzum, ein ganzes Jahrzehnt an Krisen hat Europa tief gespalten und zu einem Aufstieg des Nationalismus und des Protektionismus, zu einem Verlust an Solidarität und an Vertrauen in Europa, zu politischen Fliehkräften und einer wirtschaftlichen Divergenz geführt, die heute eine grundlegende Bedrohung für die Europäische Union darstellen.
Deutschland ist mitverantwortlich für die Spaltung
Auch die deutsche Politik trägt für das Auseinanderdriften in der EU erhebliche Verantwortung. Deutschland hat auf diese Krisen national und häufig egoistisch reagiert. In der europäischen Finanzkrise hat Deutschland zwar einem Rettungsschirm und Hilfen zugestimmt, aber sich bewusst gegen notwendige Schritte zur Vollendung einer Wirtschafts- und Währungsunion gestellt. Bei der Energie-, Klima- und Flüchtlingspolitik hat Deutschland auf nationale Alleingänge gesetzt – so wie viele andere auch.
Das jüngste Beispiel ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) als teilweise verfassungswidrig einstuft und damit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs widerspricht. Damit versucht Karlsruhe indirekt, die Handlungsfähigkeit der EZB auf die eigenen Vorstellungen von Geldpolitik zu beschneiden. Regierungen in Ungarn und Polen, die wiederholt für Verstöße gegen europäisches Recht und die Einschränkung demokratischer Werte abgemahnt wurden, waren hocherfreut über das Urteil aus Karlsruhe.
Die Coronapandemie bietet aber auch eine Chance für einen Neustart für Europa. Am 18. Mai verkündeten Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron ihren Plan für einen europäischen Wiederaufbaufonds mit 500 Milliarden Euro oder 3 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der EU. Vor allem das starke Bekenntnis der Bundeskanzlerin, für die Einheit und Stärkung Europas zu kämpfen, ist ein ermutigendes Signal, dass vor allem Deutschland und Frankreich nun gewillt sind, die notwendigen Lehren aus dem Jahrzehnt der Krisen zu ziehen.
Eine überzeugende europäische Antwort auf die Coronakrise wird entscheidend für die Zukunftsfähigkeit Europas sein. Keine politische Einheit, sei es ein Nationalstaat oder eine Gemeinschaft von Nationalstaaten wie die Europäische Union, wird auf Dauer eine zunehmende soziale und wirtschaftliche Polarisierung und eine politische Spaltung überleben können. Auf der wirtschaftlichen Seite muss es Ziel des Wiederaufbaufonds sein, Konvergenz, Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit von ganz Europa zu stärken. Gemeinsame Regeln und gemeinsame Politik können nur dann funktionieren, wenn verschiedene Regionen zusammenwachsen.
Dabei ist es auch im Interesse der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder, dass die Kluft zu den schwächsten Staaten nicht größer, sondern kleiner wird. Es erfordert das Verständnis, dass es keine deutsche Wirtschaft per se gibt, sondern nur eine europäische Wirtschaft, in der die deutsche ein essenzieller Teil ist: Fast die Hälfte der deutschen Wirtschaftsleistung sind Exporte; mehr als die Hälfte der Exporte gehen in Länder Europas. Diese europäische Wirtschaft ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Wenn Italien in wirtschaftliche Depression verfallen sollte, dann werden auch in Deutschland Hunderttausende von guten Arbeitsplätzen verloren gehen.
Das vergangene Jahrzehnt zeigt auch, dass ein schwaches, zerstrittenes und handlungsunfähiges Europa im zunehmend aggressiven Systemwettbewerb zwischen den USA und China unter die Räder gerät. Deutschland allein kann in diesem Systemwettbewerb nicht bestehen. Es reicht nicht, die schönsten Autos und die besten Maschinen zu produzieren, wenn diese beiden politischen Kräfte die globalen Regeln zu ihren eigenen Gunsten verändern.
Die große wirtschaftliche Offenheit ist vielleicht die größte wirtschaftliche Stärke Deutschlands, macht es aber auch besonders verwundbar. Denn das deutsche Wirtschaftsmodell hängt entscheidend von offenen Grenzen, fairem Wettbewerb und einer robusten Globalisierung ab. Das Scheitern des Multilateralismus in den vergangenen Jahren unterstreicht, dass Deutschland allein nur als Teil eines starken, geeinten Europas auch seine nationalen Interessen wahren kann. Und es zeigt, dass es ein kluger Multilateralismus, der europäische Werte und Interessen schützt, unerlässlich macht, dass Europa als dritte Macht mit den USA und China am Verhandlungstisch sitzt.
Stärkung öffentlicher Güter
Um ein starkes, geeintes Europa zu schaffen, müssen Deutschland und Frankreich mehr und mehr gemeinsame Verantwortung übernehmen. Ein zentraler Streitpunkt der vergangenen zehn Jahre war häufig, dass Deutschland sich von der europäischen Integration benachteiligt fühlte. Deutschland müsse für den Rettungsschirm in der europäischen Finanzkrise zahlen, Deutschland sei der Hauptleidtragende der Flüchtlingskrise 2015, die EZB mache Geldpolitik gegen Deutschland und der nun vorgeschlagene Wiederaufbaufonds verstetige nur eine immer stärkere Transferunion – so die Vorwürfe der deutschen Kritiker.
Es ist völlig richtig, dass in einer erfolgreichen Volkswirtschaft immer auch die Stärkeren den Schwächeren helfen und für sie Risiken übernehmen. Der Irrglaube ist jedoch, dies sei lediglich ein Akt der Solidarität und Fürsorge. Das ist falsch, es ist vielmehr eine Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg für ganz Europa, von dem gerade auch Deutschland besonders profitiert.
„Deutschland wird es auf Dauer nur gut gehen können, wenn es Europa gut geht.“ Auch dieser Satz von Kanzlerin Merkel trifft den Nagel auf den Kopf. Die deutsche Politik sollte alles daransetzen, einen überzeugenden Wiederaufbaufonds für Europa zu verabschieden. Die Bundesregierung hat mit ihrer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 die Chance, auch in anderen wichtigen Bereichen die Integration Europas zu stärken. Auf der wirtschaftlichen Seite gehört dazu die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion – mit einer Fiskal- und Kapitalmarktunion.
Die Bundesregierung sollte sich auch einer Stärkung europäischer öffentlicher Güter und vor allem einem stärkeren sozialen Europa widmen, genauso wie einer Unterstützung des Green Deal der EU-Kommission. Zudem sollte sie ihre Ratspräsidentschaft nutzen, um auch multilaterale Institutionen wie die WTO, die Weltbank und den IWF zu unterstützen. Dies ist eine ambitionierte Agenda. Aber diese Krise ist auch eine Chance, Europa nachhaltig wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert