Nadav Lapid über Mut zum Risiko: „Ich will radikalere Filme machen“

Filme sollen ihn und das Publikum herausfordern, sagt Nadav Lapid. Für „Synonymes“, der jetzt im Kino zu sehen ist, gewann er den Goldenen Bären.

Das Standbild aus Nadav Lapids Film „Synonymes“ zeigt einen jungen Mann, der hinter einer jungen Frau steht. Der Himmel ist grau.

Tom Mercier und Louise Chevillotte in Nadav Lapids Berlinale-Gewinner „Synonymes“ Foto: Grandfilm

taz: Herr Lapid, der Protagonist Ihres Films „Synonymes“, Yoav, ist ein junger Israeli, der seine Heimat verlässt und nach Paris zieht, um sich hier neu zu erfinden. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Nadav Lapid: Er ist innerlich zerrissen zwischen seinen israelischen Wurzeln, die er hinter sich lassen möchte, und seiner möglichen Zukunft als französischer Staatsbürger. Aber seine alte Identität ist Teil seines Körpers, er kann sie nicht einfach ablegen. Deshalb versucht er zu Beginn des Films seinen Körper zu vernichten. Er erfriert fast in der Badewanne der leeren Wohnung, der Israeli in ihm stirbt und er wird als Franzose neu geboren.

Der Film beruht zum Teil auf Ihren eigenen Erfahrungen. Welches Verhältnis haben Sie selbst zu Frankreich?

Auch ich wollte aus Israel weg und in Paris leben. Ich hörte auf, Hebräisch zu sprechen, selbst mit meiner Familie am Telefon. Damals wusste ich nichts über Film, meine Liebe zum Kino habe ich in Frankreich entdeckt. Hier habe ich alles gelernt. Paris war meine Rettung. Aber meine Liebe zur Stadt ist größer als umgekehrt. Ich habe dort noch immer das Gefühl, vor verschlossenen Türen zu stehen, nie wirklich Zugang zu haben.

Geboren am 8. April 1975 in Tel Aviv. Nach dem Militärdienst wanderte Lapid nach Paris aus. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft, 2006 schloss er sein Regiestudium an der Sam Spiegel Film and Television School in Jerusalem ab. Seine Spielfilme „Policeman“ (2011) und „The Kindergarten Teacher“ (2014) waren auf internationalen Festivals erfolgreich. Mit „Synonymes“ gewann er im Februar als erster israelischer Regisseur den Goldenen Bären der Berlinale.

Ihnen wurde von manchen Kritikern vorgeworfen, einen antiisraelischen Film gedreht zu haben.

Dabei ist er sehr ambivalent, er ist nicht einfach pro oder kontra. Allein die Tatsache, dass der Protagonist ein Israeli und die begehrenswerteste Figur des Films ist, unterwandert dieses Schwarz-Weiß-Denken. Wenn er all diese negativen Adjektive über Israel aufzählt, ist das politisch? Oder ist es ein Schrei der Verzweiflung? Der Film steckt voller Widersprüche, weil ich voller Widersprüche stecke. Ich bin Linker, aber der Film lässt sich von keiner politischen Partei vereinnahmen.

Im Februar haben Sie als erster israelischer Regisseur den Goldenen Bären auf der Berlinale gewonnen. Wie waren die Reaktionen in Ihrer Heimat?

Israel ist ein kleines Land und es dürstet nach Anerkennung, ob im Sport, beim Eurovision Song Contest oder anderswo. Die drei größten Fernsehsender unterbrachen alle ihr Programm, als wäre gerade Krieg ausgebrochen. Als ich am Flughafen in Tel Aviv ankam, warteten 40 Kameras und 50 Journalisten auf mich. Es war schon ein bisschen absurd, weil ich plötzlich als Held gefeiert wurde. Aber mir ist natürlich bewusst, dass es eine große Bedeutung hat, wenn ein israelischer Film ausgerechnet in Berlin den Hauptpreis gewinnt. Im Fernsehen wurden dann provokante Szenen aus dem Film gezeigt und die Leute wussten plötzlich nicht mehr, ob wirklich Stolz angebracht war oder nicht doch eher Scham.

Und später beim Kinostart?

Er war bei Publikum und Kritik relativ erfolgreich, vor allem wenn man bedenkt, dass es keine leichte Kost ist. Einige hassten den Film regelrecht, nicht so sehr aus politischen Gründen, sondern wegen der Inszenierung, die sie als aggressiv empfanden, wie einen Schlag in die Magengrube. Aber viele Israelis spürten auch, dass ich ihre Geschichte erzähle und ihrer Entfremdung dem Land gegenüber eine Stimme gebe.

Wir sitzen hier im Café Mersand in Tel Aviv. Ihr Film wurde nicht für den israelischen Filmpreis nominiert.

Das hat mich überhaupt nicht überrascht. Ich bin 400 Meter von hier aufgewachsen und lebe inzwischen wieder hier. Ich spüre eine starke Intimität zu diesem Ort, aber keine Liebe. Ich fühle mich eher wie ein Exilant, auch in der israelischen Filmbranche bin ich nicht zu Hause, selbst wenn ich einige Kollegen sehr achte. Die Film­akademie, die den Preis vergibt, mittel­mäßig zu nennen, wäre eine Beleidigung für das Wort „mittelmäßig“. Wenn sie meinen Film gut gefunden hätten, müsste ich mir wirklich Sorgen machen.

Sie arbeiten bereits an Ihrem nächsten Film.

Es ist ein kleines Projekt, was die Produktion angeht, aber ich hoffe natürlich, dass es ein großer kleiner Film wird. Es spielt in der israelischen Wüste. Ich wollte eigentlich nicht so schnell wieder drehen, aber ich habe das Drehbuch in nur drei Wochen geschrieben, ich musste es jetzt tun. Wir drehen ab Dezember. Er handelt von einem Filmemacher Mitte vierzig, der zwei zum Scheitern verurteilte Kämpfe führt: den einen um seine künstlerische Freiheit, den anderen um das Leben seiner Mutter. Es ist also wieder teilweise autobiografisch.

Inwieweit?

Ich hatte die Idee bereits vor der Berlinale, aber ich spüre seitdem den Erwartungsdruck, von außen, aber auch von mir selbst. Ich möchte mich wegen des Erfolgs weder wiederholen noch plötzlich einen höher budgetierten und starbesetzten Film machen. Ich will den Erfolg mit „Synonymes“ nutzen, um künstlerisch radikaler zu werden, tiefer in den Dschungel des Kinos einzudringen. Ich wähle die Freiheit, nicht den goldenen Käfig. Ich will noch mehr wagen, schräger werden.

Wie schwierig ist das in der israelischen Filmbranche?

Das ist überall gleich. Ich wundere mich, wie wenig Filme sich trauen herauszufordern, etwas Neues auszuprobieren, die Filmsprache zu verändern. Wenn ich ein Projekt vorbereite, schaue ich mir viele Klassiker an, um mich zu stimulieren. Meist nur einzelne Szenen, oft im Schnelldurchlauf ohne Dialoge, ohne Handlung, nur die Bilder. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie sich 90 Prozent dieser Filme ähneln, weil sie dieselbe Filmsprache verwenden. Da gibt es nur wenig Überraschendes, Unberechenbares. Das ist so, als würde man einen sehr persönlichen Liebesbrief schreiben, der aus Formulierungen besteht, die man mithilfe von Google gefunden hat.

Bevor Sie Filmemacher wurden, haben Sie Philosophie studiert. Wie hat das Ihren Film „Synonymes“ beeinflusst, der Identität und Sprache reflektiert?

Für mich ist Kino eine Plattform, um die Existenz zu ergründen. Filme handeln davon, was es heißt, ein Mensch zu sein, sie sind eine Art Geografie sozialer Konstruktionen. Für mich sind Leben und Kunst immer verbunden, meine Filme sind der persönlichste Ausdruck meiner selbst. Wer sie sieht, kennt mich. Sie sind intuitiv, emotional und leidenschaftlich. Sie gehen nicht geradlinig von A bis Z, sie schreien zehn Buchstaben heraus und landen dann wieder bei B.

Woher kommt Ihre Motivation, es anders zu machen?

Ich hasse es, früh aufzustehen. Und wenn ich um 5 Uhr morgens raus muss, um eine Szene zu drehen, möchte ich nicht etwas filmen, dass so schon unzählige Male zuvor gemacht wurde. Da bleibe ich lieber im Bett. Ich brauche die Energie, etwas zu entdecken, Risiken einzugehen, neue Welten zu erfinden. Alles andere ist für mich sinnlos, als Regisseur und als Zuschauer. Wenn mich die Vorstellung, eine Szene zu drehen, nicht begeistert, lasse ich sie lieber weg.

Wie haben Sie das bei „Syno­nymes“ gefunden?

Ich musste einen Rhythmus und eine Melodie finden, die die Rastlosigkeit der Jugend widerspiegeln. Ich wollte, dass der Film vibriert, sich im ständigen Kampf mit sich selbst befindet. Diese Vibration kann nur entstehen, wenn es auch etwas Stabiles gibt, das einen Ruck erzeugt. Deshalb bewegt sich der Film durch die gesamte Bandbreite filmischer Mittel, von der subjektiven Handkamera bis zur statischen Einstellung.

Ist der Film Aufarbeitung oder Ergebnis eines Prozesses?

Er ist eine Art Therapie, ich beschäftige mich mit meinem Leben und Fragen der Identität, aber zum Glück habe ich keine Lösung gefunden. Ich bin heute nicht mehr derselbe Mensch, der ich zur Jahrtausendwende war, als ich nach Paris kam und französischer als die Franzosen werden wollte. Ich kann über meine Wandlung sprechen, aber ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Auch der Film hat keine Antwort, er ist nicht abgeschlossen. Ich lebe heute wieder in Tel Aviv, einige hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt. Aber ich hoffe, nicht eines Tages hier beerdigt zu werden. Ich will immer radikalere Filme machen, bis mich irgendwann ein Regierungsauto abholt, zum Flughafen bringt und man mir befiehlt, nie wieder zurückzukehren.

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