Nachwuchs im Bundestag: Vom Büro ins Parlament
Ein Großteil der möglichen Neuzugänge bei SPD, Grünen und Linken arbeitet in den politischen Apparaten. Das ergab ein taz-Check.
Besonders extrem fällt das Bild bei der SPD aus: Wenn die SPD ihre Anzahl von 193 Abgeordneten ungefähr hält – mögliche Zuwächse müsste sie wohl an AfD und FDP abgeben –, bekommt die Fraktion rund 30 Neuzugänge. Mindestens 14 Nachwuchspolitiker, die auf aussichtsreichen Plätzen stehen und nachrücken würden, arbeiten derzeit hauptberuflich für einen Abgeordneten, einen Minister oder eine Partei. Mindestens 24 Neuzugänge auf den vorderen Plätzen arbeiten im öffentlichen Dienst oder in den politischen Apparaten. Nur zwei Arbeiter haben Aussichten, für die ehemalige Arbeiterpartei SPD in den Bundestag einzuziehen: ein Hafenarbeiter und Betriebsrat aus Bremen und eine Altenpflegerin aus Aachen.
Anders wird der neue Parlamentariermix bei der Union ausfallen. Hier häufen sich unter den Neuzugängen Freiberufler, Unternehmer, Verbandsfunktionäre und ehemalige Kommunalpolitiker.
Zwar setzt sich der Bundestag zur Hälfte aus direkt gewählten Abgeordneten zusammen. Theoretisch können die Wähler also den Kandidaten oder die Kandidatin ihres Vertrauens wählen. Allerdings treten in den jeweils aussichtsreichen Wahlkreisen fast durchgängig Kandidaten an, die auch auf der Landesliste ihrer Partei abgesichert sind.
Nur wenige Tausend in den politischen Apparaten
Ähnlich wie bei der SPD ist die Tendenz bei der Linkspartei. In den wichtigen Landesverbänden NRW, Sachsen und Berlin sind die frei werdenden Plätze fast komplett von Genossen besetzt, die hauptberuflich von der Politik leben. Bei den Grünen würden bei gleicher Fraktionsstärke 11 neue MdBs nachrücken. Auf fast jeder Landesliste steht ein Neuzugang auf einem aussichtsreichen Platz, der für einen Abgeordneten, einen Minister oder für die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung arbeitet.
Von den knapp 44 Millionen Beschäftigten in Deutschland arbeiten nur wenige Tausend in den politischen Apparaten. Diese werden in der neuen Volksvertretung also absurd überrepräsentiert sein. Ein Grund: Die Zuarbeiter lernen aus der Nähe, wie Politik funktioniert. Über einen anderen Grund reden sie weniger gern: Anders als ein Arbeiter oder ein normaler Büroangestellter können sie die Arbeitszeit für ihre eigene Parteiarbeit nutzen. Wenn im Büro mal Leerlauf herrscht, können sie am Telefon Netzwerke pflegen oder ihre Facebook-Seite auffrischen. Was in der normalen Arbeitswelt ein Abmahngrund ist, wird hier vom Chef meist geduldet. Man arbeitet für dieselbe Partei.
Es klingt nach Phrasenbaukasten
Die Dominanz der Funktionäre hat Folgen für die Art, wie ein Parlament Politik betreibt. Der Beruf prägt die Art, wie ein Neupolitiker Politik angeht. Der Typus Büroleiter hat Politik als Aneinanderreihung von planmäßigen Tagesordnungspunkten und Wiedervorlagen kennengelernt – visionäre Ideen oder gar Rebellentum sind nicht gefragt.
Dazu passen die glattgebügelten Selbstdarstellungen der KandidatInnen. „Bildung und Chancen dürfen nicht vom Geldbeutel abhängen“, schreibt Isabell Mackensen, Platz 11 der SPD-Liste in Rheinland-Pfalz. Früher hat sie das Büro eines Abgeordneten geleitet, jetzt ist sie bei der Partei beschäftigt. Alexander Wagner, SPD-Platz 7 in Schleswig-Holstein, ehemaliger Büroleiter und jetzt Referent im Kieler Wirtschaftsministerium, textet ähnlich: „Ich will gute Bildung für alle. Unabhängig vom Geldbeutel der Eltern!“ Das klingt nicht nach Lebenserfahrung, sondern nach Phrasenbaukasten.
Das sozialdemokratische Internetportal vorwaerts.de hat die Aachener SPD-Altenpflegerin interviewt. Eine Frage: „Als Altenpflegerin sind Sie eine Ausnahmeerscheinung unter den Kandidaten zum Bundestag. Macht Ihnen das Angst?“
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