Nachwahlen in Schottland am Donnerstag: Bewährungsprobe für Labour

Labour muss in Schottland Fuß fassen, um Großbritanniens nächste Wahlen zu gewinnen. In zwei Wahlkreisen kommt der Test gegen die SNP.

Michael Shanks trägt ein graues Hemd und klatscht auf einer Bühne

Zuversichtlich: Labour-Kandidat Michael Shanks vor seinen Wahl­kämp­fe­r*in­nen Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

BLANTYRE taz | Vor der alten Friedhofsmauer an der Straßenkreuzung steht ein riesiger schwarzer Steinbrocken auf einem Podest. Das Denkmal im schottischen Städtchen Blantyre soll an über 200 Männer und Jungen erinnern, die hier am 22. Oktober 1877 bei einer Explosion in einem Kohlebergwerk ums Leben kamen. Blantyre südöstlich von Glasgow war lange eine Bergbaustadt. Joseph McDade, 74, lebt um die Ecke vom Denkmal in einer Seitenstraße, er ist hier geboren und aufgewachsen. „Der Vater meines Vaters war Bergarbeiter, genauso wie dessen Vater“, erzählt er.

Charakterlose Reihenhäuser aus der Nachkriegszeit ziehen sich den Hügel hinunter, bis zum modernen Mega-Supermarkt mit großem Parkplatz. Das alte Gemeindezentrum mit Pub am Rand war einst der Sozialverein der Bergleute. Robert Hartley, 82, trinkt hier sein Guinness. Auch seine Vorfahren waren Bergleute, erzählt er. Die letzte Grube schloss hier in den 1960er Jahren. Die Armut blieb.

In diesen Tagen entscheidet sich in Blantyre womöglich Großbritanniens politische Zukunft. Es ist der zentrale Ort des Wahlkreises Rutherglen & Hamilton West, wo am Donnerstag neu gewählt wird.

Wenn Labour hier die SNP (Scottish National Party) schlägt, wäre das ein Zeichen für die britischen Wahlen nächstes Jahr: Labour braucht schottische Zugewinne auf Kosten der SNP, um im britischen Parlament Aussichten auf eine eigene Mehrheit zu haben. Der Sieg hier sei Labours Weg zurück an die Macht, sagte Labour-Chef Keir Starmer bei einer Veranstaltung im Wahlkreis.

Mandatsentzug per Volksentscheid

Die SNP geht mit schlechten Karten in die Nachwahl. Ihre bisherige Wahlkreisabgeordnete Margaret Ferrier verlor ihr Mandat mit Schimpf und Schande. Im September 2020 ging sie während eines Coronalockdowns, als sie selbst mit Covid infiziert war und das auch wusste, zuerst ins Fitnessstudio und hielt dann Reden, erst in einer Kirche und dann im britischen Unterhaus in London und fuhr mit der Bahn nach Hause.

Eine leere Straße, gesäumt von farbarmen Häusern

Schottische Tristesse im Stadtteil Bankside: Links Sozialwohnungen, rechts Wettbüro Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Als das bekannt wurde, schloss die SNP sie aus der Fraktion aus, dann wurde sie strafrechtlich schuldig gesprochen und im März 2023 aus dem Unterhaus suspendiert. Sie trat immer noch nicht freiwillig zurück, aber ein Volksbegehren erzwang ihren Mandatsentzug. So gibt es nun Neuwahlen – in einem alten Labour-Wahlkreis, der 2015 an die SNP fiel, 2017 zurück an Labour und 2019 wieder an die SNP.

Michael Shanks, ein junger rothaariger Mann mit Vollbart und Brille, soll Rutherglen & Hamilton West für Labour zu­rückholen. Er lebt vor Ort und arbeitet mit von Armut betroffenen Menschen und Menschen mit Behinderungen. Vor vier Jahren verließ er Labour unter Corbyn wegen Brexit und trat der Partei erst wieder unter Starmer bei.

Alte Bergleute wie Joseph McDade und Robert Hartley muss Shanks gar nicht groß überzeugen. Die Stimme für Labour sei das, was sie mit ihren Vorfahren verbinden würde, sagen die beiden unabhängig voneinander. Doch immer wieder stößt die taz auch auf Menschen, die auf die Frage nach ihrer Wahlpräferenz Antworten geben wie: „Wozu? Die Politiker sind alle gleich. Sie tun nicht, was sie versprechen.“ Oder sie suchen gleich das Weite.

In Cambuslang, einer stark verarmten Kleinstadt, erzählt die 22-jährige Pflegerin Alison vor den Läden eines Betonkomplexes aus den 1970er Jahren, dass sie zuletzt die SNP unterstützte, jetzt aber wieder Labour wählen möchte. „Die SNP behauptet viel und quatscht von Unabhängigkeit, aber ich glaube inzwischen, dass wir unabhängig nicht überleben könnten.“ Sie wünsche sich Politiker, die den Ärmeren zur Seite stehen.

Unabhängiges Schottland

Plötzlich mischt sich eine ältere Frau mit stark rot gefärbten Haaren unaufgefordert ins Gespräch ein. „Ich habe gehört, dass Sie glauben, wir Schotten könnten es nicht als unabhängiges Land schaffen. Das ist vollkommener Mist, den Sie da erzählen!“, schimpft sie. Als Alison auf Drängen der rothaarigen Frau zugibt, dass sie nichts ­gegen die Königsfamilie habe, regnet es nur noch Worte, bis die mutmaßliche SNP-Unterstützerin angegiftet abdreht.

Katy Loudons dunkle Haare wehen im Wind

Setzt auf die eigene lokale Bilanz: SNP-Kandidatin Katy Loudon Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Eine weitere Meinungsverschiedenheit, allerdings in zivilisierterer Form, erlebt die taz zwischen Karen Bould, 58 und Tochter Shannon Bould, 31. Auf einem riesigen Parkplatz umrandet von gigantisch großen Supermärkten und Geschäften in Hamilton West erzählt Karen, dass sie für Schottlands Unabhängigkeit sei und deswegen eigentlich immer SNP wähle. Doch Tochter Shannon will lieber grün wählen. „Nach Brexit, der Pandemie und dem Finanzcrash können wir so was wie die Unabhängigkeit Schottlands nicht verkraften“, sagt sie. Sie glaubt, man müsse sich auf anderes konzentrieren, etwa das ächzende Gesundheitssystem und mangelhafte Bahnverbindungen.

Der ehemalige Taxifahrer Alex McPhee, 69, findet, dass die SNP-Regionalregierung Schottlands Bildungs- und Gesundheitssystem heruntergewirtschaftet hat. „Wir hatten mal eines der besten Bildungssysteme der Welt, heute liegen wir viel weiter unten.“ Solche Probleme gestehe die SNP nicht ein, sondern zeige immer nur als Ausrede auf die britische Regierung. McPhee wird Labour wählen.

Die SNP steht lädiert da, nach einem Finanzskandal, einem Machtkampf um die Nachfolge Nicola Sturgeons als schottische Ministerpräsidentin und einer schlechten Bilanz in zahlreichen Regierungsfeldern. Erst vergangene Woche musste der neue Partei- und Regierungschef Humza Yousaf mit ansehen, wie seine Vorgängerin Sturgeon sich zusammen mit gegen die schottische Regierung streikendem Schulpersonal fotografieren ließ.

Für SNP-Anhänger ist das alles nicht so wichtig. Die verrentete Beamte Moira McDonald hat schon per Briefwahl SNP gewählt. Zu den Problemen sagt sie: „Die SNP ist jetzt halt so wie alle anderen Parteien.“ Was zähle, sei Unabhängigkeit. Sie glaubt, dass die Medien viel Wind machten und die Leute vergessen würden, was man alles in Schottland habe, das es in England nicht gebe: kostenlose Medikamente, Sehtests und Zahnuntersuchungen, gebührenfreie Studienmöglichkeiten, kostenlose Busfahrten für Jugendliche.

Die SNP-Wahlkreiskandidatin Katy Loudon, Bezirksabgeordnete und Grundschullehrerin, wirkt im Auftreten selbstsicher und erinnert etwas an Nicola Sturgeon. Es gehe alles gut, sagt sie der taz zuversichtlich am Ende eines Wahlkampftages. „Die Leute sprechen mit mir über die gestiegenen Lebenshaltungskosten, die Politik der Tories und ihren harten Brexit und den Wirtschaftsabsturz unter Liz Truss, von dem sich das Land nach einem Jahr immer noch nicht erholt hat.“ Was dagegen getan werden kann? „Unabhängigkeit!“ Großbritannien sei „ein zerbrochenes System“. Über die SNP will sie nicht sprechen. Sie setzt auf ihre Bilanz als Bezirksabgeordnete. „Ich habe mich für Mahlzeiten für arme Kinder in den Schulen und in den Ferien eingesetzt, worauf ich stolz bin.“

Doch es gibt bei ihrem Wahlkampf Hinweise, dass vielleicht nicht alles ganz so rosig ist. So setzt die SNP bezahlte Flug­blatt­ver­tei­le­r:in­nen ein, angeblich mit Arbeitsverträgen einer Art, die die Partei offiziell abschaffen will. Hat die SNP etwa nicht mehr genug Freiwillige? Labour hingegen hat nach eigenen Angaben 1.200 Freiwillige aufzubieten, die, wie es heißt, an 80.000 Türen klopfen, an manche sogar mehrmals.

Hauptsache nicht die Tories

Öffnen sich die Türen für Labour auch in Burnside in Rutherglen? Hier stehen alte stolze Villen aus der Zeit, in der Rutherglen sehr wohlhabend war, im Cafés muss zum Verzehr von schicken Avocadobrötchen mit Frappucino der Tisch reserviert werden. Es ist der einzige Ort, wo bei den Regionalwahlen die Liberaldemokraten punkten konnten.

An der Türschwelle einer alten Villa mit Vorgarten und teurem Auto spricht ein Bewohner mit der taz, unter der Bedingung, dass er anonym bleiben darf. Er sei in Blantyre in Armut aufgewachsen, aber mit seiner Kommunikationsfirma aufgestiegen. In England wäre so jemand vielleicht ein konservativer Stammwähler. Hier, sagt er, sei es Familientradition, niemals die Tories zu wählen. „Ich habe in der Vergangenheit teilweise SNP gewählt“, sagt er.

Doch jetzt habe sich die SNP selbst aufgegeben. Labour wirke einfach glaubwürdiger. „Alle wissen, dass wir die Tories nur dann loswerden können, wenn Labour in Schottland wieder gewinnen kann“, sagt er. Es sei eine Frage der Priorität. Ein Ende der Tory-Regierung sei wichtiger, da müsse die Unabhängigkeit erstmal warten.

Gibt es überhaupt Konservative hier? 2019 holten sie immerhin 15 Prozent. Die taz wird auf dem Gelände eines Bowlingklubs in Rutherglen fündig. Eine kleine Gruppe von sechs Spielern, alle über 70 Jahre alt, outet sich als konservative Wähler. Das liege an ihrem Militärhintergrund. „Unser Land muss zusammenbleiben und seine Kräfte vereinen“, mahnt Tom, der einst in Berlin-Spandau den Nazi-Gefangenen Rudolf Heß bewachte. Er verweist auf die britischen Atom-U-Boote im schottischen Faslane nicht weit von Glasgow. „Wir haben zur Nachwahl bereits eine Strategie“, verrät Tom, als handele es sich um ein Kriegsgeheimnis. „Wir werden unsere Stimmen Labour schenken, um so die SNP loszuwerden.“

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