„Nacht“-Ausstellung in Hamburg: Zum Schlafen zu schade
Sprüher, Spukgestalten und Schichtarbeit: In Hamburg ist der Remix einer Berliner Ausstellung über „Die Nacht“ zu sehen.
Beides berücksichtigt die Ausstellung gewordene „Reise durch die Nacht“, die Florian Schütz kuratiert hat, ebenso die Nachtgestalten, die uns diverse Künste beschert haben: Hexen und Nachtmahre, Werwolf und Vampir, aber auch die ungleich jüngere, neoromantische Popkulturverästelung namens Gothic. Oder die Sinnstiftung, die der frühe Mensch vornahm angesichts dieses über ihn kommenden Dinkels, sei’s im Mythos, sei’s in der Religion – sei’s in den Wissenschaften: Auf eine überdimensionale Reproduktion der „Himmelsscheibe von Nebra“ sind sie nun einerseits sehr stolz in Hamburg, andererseits: Das rund 4.000 Jahre alte Original bekam vor einigen Jahren nicht mal das örtliche archäologische Museum ausgeliehen; da sind die Kolleg*innen in Sachsen-Anhalt eigen.
Der Trailer zur Ausstellung, sowas muss heute ja auch immer öfter sein, setzt den nächtlichen Luftfrachtumschlag bei DHL zeitgerafft zu Technobeats in Szene – hinter dem Berliner Museum steht ja die Deutsche Post mit ihrem Geld. Dass aber manche arbeiten, arbeiten müssen, wenn andere feiern (oder gar schlafen): Auch davon erzählt diese Ausstellung, die Erfordernisse eines zunehmend globalen, mithin keinen echten Feierabend mehr kennenden Wirtschaftens finden also Berücksichtigung. Dass Schichtarbeit körperliche Folgen haben kann, und zwar kaum gesunde: so wahr wie überraschend in einer doch zuallererst kulturgeschichtlich angelegten Ausstellung.
Und dabei löst sich die Hamburger Ausstellungsvariante dann auch von der in Berlin: Hinzugekommen sind etwa Fotos, die über mehrere Jahrzehnte der örtliche Nahverkehrsbetrieb, die Hochbahn, in Auftrag gab. Was passiert, wenn die U-Bahn-Züge stillstehen? Dass sie nämlich durchfahren, zumindest am Wochenende: So viel Großstadt ist Hamburg so schrecklich lange noch gar nicht.
„Die Nacht. Alles außer Schlaf“: bis 1. 6. 20, Hamburg, Museum der Arbeit
Diskussionsabend zur Nachtarbeit am Beispiel der Druckindustrie: Mo, 25. 11, 19 Uhr
Kurzfilmnacht: Mo, 16. 12., 19 Uhr
Infos und das gesamte Begleitprogramm: https://shmh.de/de/die-nacht-alles-ausser-schlaf
Zwei andere nun berücksichtigte Fotoserien entstanden für das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt, eine dritte schoss CP Krenkler bei der Begleitung von Polizeibeamt*innen der überlokal bekannten Davidwache: Kaum also lässt sich der Ausstellung vorwerfen, sie verschlösse die Augen vor der Ambivalenz des Nächtlichen, von gern Übersehenem oder auch das Licht Scheuendem. Nacht und Arbeit aber, und das in Streifengangreichweite von Deutschlands prominentestem Polizeirevier? Ja, auch die Prostitution hat hier ihren Auftritt, und das übrigens nicht erst in Hamburg, wo man ja manchmal nicht so genau weiß, wie sehr dieses besondere Gewerbe nun zu verdammen ist – oder nicht vielmehr eine Art Tourismusfaktor.
Noch so ein Ambivalentes, das zum allergrößten Teil im Schutz von Dunkelheit oder wenigstens dünner Personaldecke geschieht: Graffiti. Ein eigens beauftragtes Piece ziert nun eine Wand im Ausstellungsraum; daneben Fotos von Sprühern in Aktion, die lieber nicht erkannt werden wollten – anders als die lokalen Szenegrößen, von denen einige zur Ausstellungseröffnung anwesend waren. Ein neues Buch stellen Mirko Reisser alias „Daim“, Oliver Nebel („Davis One“), Andreas Timm („Cario“) und Frank Petering vom Magazin Backspin dann im Frühjahr vor: „Eine Stadt wird bunt – Hamburg Graffiti History 1980–1999“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?