piwik no script img

Nachruf„Salut le korrigan!“

Nicholas Kramer war taz-Austräger, polyglotter Reisender, sensibler Beobachter, Dichter, Hausbesetzer und vieles mehr. Ein Nachruf von zwei Freunden.

„Er wurde von vielen, vielen Menschen geliebt“ Foto: Gaelle-Kreens

Nicholas Kramer war eine bekannte Figur des Berliner Nachtlebens. Seit den 90er Jahren war er bis zuletzt fast jeden Abend in den Kneipen von Kreuzberg und Neukölln unterwegs, um die „taz von morgen“ unter die Leute zu bringen. Mit der etwas unbeholfenen Anmut seiner langgliedrigen Silhouette, seinen an einen alten Seebären erinnernden Allüren, seinem etwas schelmisch verschlagenen Blick und seiner rauen, heiseren Stimme verbreitete er dort seine sprühende Intelligenz, seinen poetischen Humor und seine Neugier auf alles Lebendige und Sanfte. Im September 2023 ist Nicholas von uns gegangen.

Er war ein polyglotter Reisender, der sich die Welt vor allem als Wanderer erschloss. Seine erste große Reise unternahm er mit 14 Jahren, als er, statt in den Ferien vom Internat nach Hause zu fahren, zu Fuß Richtung Süden ging und Italien erreichte. Es folgten Osteuropa, Sibirien, China, Indien, Mali, Togo, sein geliebtes Anti-Atlas-Gebirge in Marokko …

Meist zu Fuß war er immer auf der Suche nach den Inspirationen und Strategien der Lebewesen, nach mineralischen Landschaften, Lichtern, unbekannten Pflanzen, ganz besonderen Speisen. Seine Aufmerksamkeit galt immer zuerst dem Schwächsten, sein Herz war zutiefst ökologisch, er war sich der sozialen und politischen Situationen bewusst, sehr sensibel für die Schicksale der Frauen. Er hatte immer ein tiefes Verständnis für das, was ihm auf seinem Weg begegnen würde.

Als eigenwilliger und sehr unabhängiger Charakter, der eine eher ungewöhnliche Kindheit hatte, zog es Nicholas in den 80er Jahren vom Rheinland nach Berlin, um dort Informatik zu studieren. Sehr bald war er vom hedonistischen Leben der Stadt angetan, und als die Mauer fiel, zog er in ein leerstehendes Gebäude in der Dunckerstraße 14 im Prenzlauer Berg ein. Er wurde der zweite Hausbesetzer in dem, was später einmal das berühmte „Dunckerland“ werden sollte.

Dort blieb er bis zum Ende, wobei er die ganze Verrücktheit und Fantasie dieses Abenteuers und noch mehr in sich aufnahm. Wie viele damals kam er bei seinen Höhenflügen irgendwann der Sonne etwas zu nahe. Das verlockende, hitzige Feuerwerk des Lebens im Berlin der 90er Jahre ging an ihm nicht spurlos vorüber.

Die Wohnung von Nicholas zu betreten, war ein Ali-Baba-Erlebnis. Stapel von Schallplatten, zuoberst Roberta Flacks „Killing Me Softly“, wunderschöne westafrikanische Stoffe, Flaschen mit Gewürzen, feine Tees, Basmatireisbehälter, Bilder von Freunden, handgeschriebene Briefe, brennende Kerzen, ein von der taz bedeckter Fußboden, selbstgebaute Regale voller Bücher. Ein Balken, der den Zugang zu seinem Waschbecken etwas versperrte, nur, um Lewis Carroll zu folgen, damit ihm nicht langweilig wird. Nächtelanges Kochen, Lachen und Reden, jedes Wort mit viel Rotwein und Zigaretten auskosten, über die Geheimnisse der Kindheit, über die Wunden, Träume und Sehnsüchte der Erwachsenen sprechen, über die wunderbaren Menschen, die in den Kneipen arbeiten, die er dabei jede Nacht beobachtete, über Chamäleons, über Wale, über unsere Zukunft, über die Liebe.

Seit 2013 schrieb Nicholas viel Lyrik. Zuletzt arbeitete er an seinem dreisprachigen Buch „Das Museum der Liebe“, mit deutschem, französischem und englischem Inhalt. Er hatte dazu bereits begonnen, musikalische Lesungen zusammen mit Berliner Musikern zu veranstalten.

Geboren wurde Nicholas am 31. Dezember 1965. Er wollte 100 Jahre alt werden. Er wurde von vielen, vielen Menschen geliebt. Seine Lyrik spiegelt sein Leben. Sein liebevoller Blick auf die Lebenden hatte stets die Sanftheit einer Feder, die sich noch an den Flügel eines Vogels schmiegt.

Er schrieb:

Fliegen& sun – Sonne, mein kleiner Bruder ich nehm Dich bei der Hand und wenn Du dereinst großgeworden so zeig ich Dir Sogar die Nacht.

Bei Verabschiedungen verwendete Nicholas stets die aus dem Bretonischen stammenden Worte „Salut le Korrigan!“. Es ist der Abschiedsgruß der Poeten. Der Korrigan ist ein Wesen der keltischen Mythologie. Er ist, wie Nicholas, ein Wesen der Nacht. Er kann jederzeit an jedem beliebigen Ort erscheinen und jede beliebige Gestalt annehmen. Der Korrigan verwandelt des Nachts einfache Dinge in kostbare Schätze, so wie der Poet einfache Worte zu einem Sprachjuwel zu verbinden vermag. Doch sobald der Tag anbricht, ist der Zauber wieder vorbei.

Nicholas’ Freunde und Freundinnen wollen in diesem Jahr eine Gedenkveranstaltung für ihn in Berlin organisieren und vielleicht einen Blog für seine Gedichte einrichten.

Sie können uns unter nicholasfriends@proton.me schreiben, wenn Sie sich daran beteiligen oder auch nur eine Erinnerung an ihn teilen möchten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!