Nachruf auf Toni Negri: Der Autonomia größter Denker
Er war einer der führenden Theoretiker der italienischen Linken. In der Nacht zu Samstag ist der Philosoph Antonio Negri gestorben.
In den 1990er Jahren begannen wir im Berliner ID Verlag und über die Zeitschrift Die Beute Schriften von Toni Negri zu veröffentlichen. Toni war als historischer Anführer der italienischen Autonomia und zuvor der Strömung Potere Operaio sowie als Philosoph und Staatstheoretiker damals bereits eine Legende. Zumindest in den Zirkeln der undogmatischen Linken der 1980er und 90er Jahre.
Die ins Deutsche übersetzten Werke trugen Titel wie „Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion“ (1998). Oder „Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne“ (1997). Letzteres Buch hatte er bereits gemeinsam mit Michael Hardt verfasst. Aber kaum jemand hätte geglaubt, dass das Autorenduo mit „Empire. Die neue Weltordnung“ schon bald einen internationalen Bestseller veröffentlichen würde. „Empire“ traf 2000 den Nerv der Zeit.
Denn Negri und Hardt analysierten sehr treffend die globalen Veränderungen des Netzwerkkapitalismus, die Deterritorialisierung der Produktion und die Informatisierung der Arbeit. Sie erfassten die empirisch feststellbaren Veränderungen des globalen Kapitalismus und versuchten daraus utopische Momente für ein besseres Leben zu gewinnen. Die Bedeutung von Nationalstaaten sahen sie schrumpfen – und begrüßten dies. Statt einem einzigen geographisch zu lokalisierenden ökonomischen imperialen Zentrum sahen sie viele. Ein Land konnte in der Fläche der „Dritten Welt“ angehören, doch seine Eliten in ihren Kernen der ersten.
Auf „Empire“ folgte der Band „Multitude“, und der Versuch, die neue Menge der gesellschaftlich Arbeitenden als potentiell revolutionäres Subjekt genauer zu umreißen. In der Bundesrepublik waren die Köpfe der 1970er-Jahre-Autonomie, der Spontis und undogmatischen Linken um Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit größtenteils zu den Grünen gegangen.
Doch in Italien waren die Auseinandersetzungen ungleich zugespitzter, härter und unversöhnlicher. Die Autonomia war eine militante Massenbewegung. Negris Freund und Weggefährte, der Schriftsteller Nanni Balestrini, hat ihr in dem Roman „Die Unsichtbaren“ eine herausragende literarische Überlieferung geschaffen.
Verhaftet nach dem Mord an Aldo Moro
In Reaktion auf die Attentate der Roten Brigaden und der linken Aufstände stand Italien in den 1970ern unmittelbar vor einem rechten Staatsstreich. Nach dem Mord der Roten Brigaden an dem Christdemokraten Aldo Moro 1978 eskalierte die Lage weiter. Negri und andere führende Köpfe der Autonomia wurden in der Folge verhaftet. Negri, Professor für Staatstheorie in Padua, wurde zum vermeintlichen Anführer der Roten Brigaden stilisiert. 1983 konnte er sich ins Exil nach Frankreich absetzen. Dort lebte er die nächsten 14 Jahre.
Er lehrte und nahm dort auch öffentliche soziologische Forschungsaufträge wahr. 1997 wollte er der juristischen Auseinandersetzung mit dem italienischen Staat nicht länger ausweichen. Bei der Rückkehr wurde er in Rom verhaftet. Er verbüßte im Anschluss eine bis 2003 dauernde Haftstrafe, die letzten Jahre dabei als Freigänger. Tagsüber durfte er das Gefängnis verlassen, nachts musste er sich zurück in seine Zelle begeben und einschließen lassen.
In einem persönlichen Gespräch berichtete er davon, wie unversöhnlich einst die Positionen zwischen den Roten Brigaden und den Militanten der Autonomia waren. Den Roten Brigaden galten Leute wie er als Verräter. Negri lehnte deren Eskalations- und Mordstrategie ab. Symbolisch hätten sie ihn, so erzählte er es, bei einem Aufenthalt im gleichen Gefängnis, in einer Sitzung zum Tode verurteilt.
Ein internationaler Theoriestar
Die neuerliche Verhaftung 1997 in Italien, die folgende Veröffentlichung von „Empire“ im Jahr 2000 und seine fortgesetzte, so leidenschaftliche wie brillante Diskursfreude machten aus Toni Negri Anfang des Jahrtausends einen internationalen Theoriestar. Die KP-Ideologien schienen mit dem Zerfall der Sowjetunion endgültig ausgedient zu haben, die Globalisierung setzte Beweglichkeit und neue Kräfte frei.
In den 1990er Jahren waren Negris Schriften noch eher schwer verkäuflich gewesen. Es war nun eine Freude, zu beobachten, wie Toni Negri seine wiedergewonnene Reisefreiheit auskostete und gerade auch im kulturellen Raum jene Anerkennung bekam, die ein scharfer Denker der Autonomie wie er verdiente.
Mitunter konnten seine Auftritte dabei eine durchaus dramatische Wendung bekommen. Es war 2004, als Toni Negri am Schauspielhaus Zürich auf einer Veranstaltung sprach, die ich moderierte. Teile der Autonomen-Szene aus dem Umfeld der Roten Fabrik warfen uns „Ausverkauf“ vor. Wir saßen tatsächlich vor ausverkauftem Saal auf der Bühne im Schiffbau des Schauspielhauses Zürichs.
Negri – ein Leben lang dem Gedanken nach einem autonomen Leben in Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, Egalität und Freiheit verpflichtet – brachten die eindimensionalen Polemiken gegen ihn zur Weißglut. Die hinter Masken verborgenen anonymen Zwischenrufer schienen auf ihn herausfordernd und darin anregend zu wirken. Sofort verließ er seine Vortragsroutine.
In Rhetorik gewieft
Jetzt ging es um etwas. Und Negri hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er erhob sich und redete im Stehen. Den stumpfen Vorwurf des Opportunismus wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Der gewiefte Rhetoriker legte nacheinander Jackett und Pullunder ab, krempelte die Hemdärmel hoch und begann in zunehmender Erregung zum Zürcher Publikum zu sprechen.
Er erzählte von seiner Herkunft und was ihn prägte: von dem bäuerlich-plebejischen Background des Elternhauses, dem Elend der alten Fabrikarbeit, dem Dogmatismus der KP, den Kämpfen der früheren Autonomie und sich verändernden Gegebenheiten, die man zu reflektieren habe, anstatt Neiddiskurse über Räume und manchmal ganze Staaten hinweg zu führen. Vor dem Digitalen drehte sich tatsächlich ja vieles bei der Autonomie um Räume, um feste Gegenkulturen, alternativen Lebensformen und klar ablesbare Codes.
Der Gegenwart zugewandt
Negri konnte sehr kämpferisch sein, aber auch verschmitzt, humorvoll und höflich. Er strahlte Respekt und Offenheit aus, Charme und Stilsicherheit, die in den deutschen Szenen eher selten anzutreffen waren. Seine Augen konnten aber auch leuchtende Blitze aussenden. Und einmal in Rage geredet, war der Philosoph ein Ereignis.
Dann war Negri schlicht furios, wusste, wie er den Saal einfing, war witzig, scharf, eine authentische und integre Persönlichkeit. Er schien in völliger existentieller Übereinstimmung mit dem zu sein, was er sagte und einforderte. Dabei verklärte er die Kämpfe der Vergangenheit nicht. Er blieb der Gegenwart zugewandt und an den Perspektiven anderer interessiert.
Wie seine Partnerin, die französische Philosophin Judith Revel, und seine Tochter Anna Negri auf Social Media mitteilten, ist Toni Negri nun in der Nacht auf den 16. Dezember im Alter von 90 Jahren in Paris gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben