Nachruf auf Max Kruse: Urmel lebt weiter!
Max Kruse ist der Vater der Geschichte vom Urmel aus dem Eis. Mit 93 Jahren ist er im bayerischen Penzberg verstorben. Uns bleibt die Mupfel.
Seine zweiterfolgreichste Reihe an Geschichten hatte er schon Anfang der fünfziger Jahre geschrieben: Das war eine um einen Löwen, der aus dem Zoo ausbrechen kann und allerlei Abenteuer erlebt. Ein Jahrzehnt später setzte die „Augsburger Puppenkiste“ für den Hessischen Rundfunk die Märchen in Szene, wie immer als Vierteiler vor Weihnachten. Max Kruse, der Erfinder dieses Helden, war einer, der offenbar wusste, wie man eine Magie des Erzählens bilderreich aufbereitet.
Wer erinnert nicht, wie nervenzehrend es war, nach der ersten Folge auf die zweite zu warten? Eine ganze, unendliche Woche. Max Kruse wusste, wie man Spannung erzeugt. Cliffhanger, Spannungsmomente, Thrill … In allen mehrteiligen Stories ragten die letzten Sekunden einer Folge in die nächste hinein. Wer war dieser Max Kruse, professioneller Verzauberer der zweiten Chance?
1921 im sachsen-anhaltischen Bad Kösen zur Welt gekommen, jüngstes Kind einer prominenten Familie, die auf Freisinn hielt, auf privates, nicht politisches Glück setzte und gewiss zur Weimarer Boheme zu zählen war, hatte er eigentlich einen anderen Weg als den des Schriftstellers gehen sollen. Mutter Käthe Kruse war Kopf ihrer immer steter wachsenden Puppenwerkstatt, auch ihr „Nesthäkchen“, wie man weiland zum jüngsten Kind sagte, sollte in das Imperium der Puppen eintreten.
Für die SA ungeeignet
Und das machte Max Kruse auch. In der Kindheit von schwächelnder Kondition, körperlich eher ein Hänfling, kein Haudegen, kein männlicher Kracher, der für irgendeine SA hätte gut sein können, las er mehr, als dass er sich raufte. Das Eintauchen in Geschichten, das war es, was ihn zu Büchern trieb. Nach dem Abitur in Weimar studierte er in Weimar, wenngleich nur kurz, Philosophie und Betriebswirtschaft – letzteres Fach noch eine Referenz an die Mutter. Nach dem Nationalsozialismus, dem er als Soldat nur kurz dienen musste und schließlich wegen Krankheit aus der Wehrmacht entlassen wurde, baute er die Puppenproduktionswerke in der Bundesrepublik wieder auf – zog sich aber aus dem Geschäft zurück. Erzählen war wichtiger.
Seine berühmteste Figur kam Ende der sechziger Jahre zur Welt, ein Dinosaurier, den es in die Jetztzeit getragen hatte: Urmel. Max Kruse kam die Idee zu diesem anrührenden Helden als Berufstätiger, der ein Kind, seinen Sohn Sebastian, zu versorgen hatte. Auf dem Weg von der Arbeit, so erzählte es der Autor später, habe er überlegt, was es zu essen geben könne. Eine Forelle vielleicht – tiefgefroren im neu angeschafften, technisch hochmodernen Kühlschrank. So überlegte er: Wie wäre es, im Eis ein aus sehr, sehr alten Zeiten erhaltenes Ei zu finden, das durch natürliches Auftauen plötzlich zum Leben erwacht? So dass etwa ein Dinosaurier zur Welt kommt?
Die Geschichte nahm ihren Lauf – Urmel ist ein geliebtes Wesen auf einer Insel, gehegt und behütet von Professor Habakuk Tibatong (allein schon der Name!, was für eine feine Veräppelung der damals noch gültigen Ordinarienseligkeit an deutschen Universitäten …), der seine Heimat verlässt, um auf der Insel Titiwu zu forschen. Nicht minder ist Urmel beseelt durch die anderen Tiere. Ein Waran, eine Haushälterin namens Wutz, die ein sprechendes Schwein ist, ein Junge namens Tim Tintenklecks und ein Pinguin Ping und der Schuhschnabelvogel Schusch, nicht zu vergessen der singende See-Elefant: Wer damals Kind war, wird sich warm daran erinnern, dass diese Welt eine nicht heile, aber zufrieden stimmende war: Werden die Tiere die menschliche Sprache lernen, um miteinander zu sprechen? Und: Wer neidet schon wieder die Muschel, die Wohnung des Waran, in der alle gern mal Ruhe und Muße finden würden?
Kruse, Ende, Krüss
Wobei: Die Muschel hieß zwar so; weil aber alle – bis auf Urmel – einen Sprachfehler hatten (und was heißt schon Fehler, wenn es doch um liebenswürdige Eigenheiten geht), wird sie als „Mupfel“ bekannt, denn Ping kann ein „sch“ nur als „pf“ aussprechen, weshalb es eben eine Mupfel war und ist.
Die „Augsburger Puppenkiste“, die ihren „Der Löwe ist los“-Star Max Kruse um diese Geschichte bat, setzte Urmel und all die anderen ergreifend in Szene. Keine rührseligen Figuren, sondern ihr Gegenteil: neugierig, eigen, sinnig. Nebenbei noch: Typisch und in den animierten Neuverfilmungen der „Urmel“-Saga nicht enthalten die klockernden Geräusche, die alle Wesen machen, wenn sie ihre Augenlider senken: Tonschnipsel aus alten Zeiten, unvergesslich.
Max Kruse war kein Erzähler, der Putzigkeiten aufzuschreiben wusste. Er zählt, wie auch Michael Ende (“Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“), Otfried Preußler (“Der Räuber Hotzenplotz“), James Krüss (“Mein Urgroßvater und ich“), auch Ali Mitgutsch (“Rundherum in meiner Stadt“) zu den Nachkriegskünstlern, die auf je ihre eigene Art mit allen Narrativen für Kinder brachen. Sie alle keine Alphakerle, eher schüchtern, unsoldatisch, ein bisschen einsam.
Sie hatten keine edlen Wilden wie Karl May zu bieten, auch keine schneidigen Jungs und sauberen Mädel wie Naziautoren sie ihren Leser*innen nahezubringen suchten. Ihre Welt war die der Eigenheiten, des Einanderlassenkönnens, aber auch der Gefahren und Risiken, jedoch ohne Heroenkult. Das war ihre Vergeltung für alles, was bis 1945 kulturell Comment war. Die Welt der Figuren in Max Kruses Romanen war, ähnlich die der Schwedin Astrid Lindgren, immer von einer feinen Melancholie durchwoben. Wenn man will, war Max Kruse ein Autor, der jeder deutschen Tradition spottete: Eine Figur wie „Don Blech“ oder ein „Lord Schmetterhand“ waren die Antithesen zu allem, was deutsche Kinder bis 1945 lesen konnten.
Unzugänglich für religiöse Tonlagen
Dass für diesen Blick, für die Perspektive des Friedlichen und Nichtsoldatischen etwas Zeit, vielleicht viel „re-education“ nötig war, belegt, dass die Löwen-Geschichten Max Kruses Anfang der fünziger Jahre zunächst kaum Erfolg hatten: Die Nachkriegskinder hatten noch keinen Sinn (haben dürfen) für die Eigenheiten und Selbstbewusstheiten, die in ihnen stecken konnten. Dass Max Kruse wie auch die genannten seiner Kollegen wenig empfänglich waren für die linke Rote-Rüben-Pädagogik der frühen Siebziger, für die instrumentalisierenden Ästhetiken des revolutionären Kampfes, versteht sich: Kinder sollten nicht für eine bessere Welt kämpfen müssen, wie sie sich Erwachsene vorstellen.
Max Kruse, der erfrischend unzugänglich war für religiöse Tonlagen, der im Gegenteil im wissenschaftlichen Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung Platz und Stimme hatte, der alles Gottbehauptende für Ablenkung von einem im Guten möglichen Irdischen hielt, lebte im Bergarbeiterstädtchen Penzberg, Bayern. Im Alter von 93 ist er dort am Freitag gestorben. Die Bundesrepublik verdankt ihm ein Werk der inneren Friedensstiftung – und alle Kinder, gleich welchen Alters, bezaubernde Märchenfiguren. Man möge ihm danken!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr