Nachruf auf Marianne Fritzen: Die Gehaltvolle
Die prägendste Mitbegründerin der deutschen Anti-AKW-Bewegung ist tot. Sie wollte nie eine Ikone sein und war doch eine unantastbare Autorität.
Es reichte, um einem Ort Würde zu geben, eigentlich schon, wenn sie nur auch da war. Sie konnte dann an kalten Novembertagen auf einer Bierbank sitzen, mit dem Rücken an der Plastikplane eines provisorisch hergerichteten Zeltes irgendwo auf einem Feld zwischen Lüchow und Dannenberg und es genügte. Sie musste dann nur zuhören, aber wer sie kannte und das Wort hatte, der wusste sich dann zu wägen. Nur wenige Menschen haben diese Strahlkraft: dass ein peinliches, ein aufgewühltes, vielleicht ein maßloses Wort in ihrem Ohr auch für andere gleich eine viel schwerere Bedeutung bekommen konnte. Marianne Fritzen hatte diese Eigenschaft. Sie bändigte, ohne zu zähmen, ohne zu verurteilen. Der Sache nach.
Marianne Fritzen, die Autorität.
Marianne Fritzen, die Mitbegründerin der Anti-Atomkraft-Bewegung. Marianne, die Aufrichtige.
Nun ist Marianne Fritzen tot.
Wenn diese Frau also im Raum war, sagen wir, bei einer Pressekonferenz nach einer eiskalten Novembernacht im Castor-Protest oder in einer Scheune oder im Keller ihres Hauses, wo die delikaten Dinge besprochen wurden, dann wirkte das wie eine Besinnung, wie eine Züchtigung der wilden Erstürmer und Erkämpfer, gegen die Selbstverliebtheit und gegen die platte Parole, die ja doch auch verbreitet ist unter Aktivistinnen. Es wirkte würdigend. „Ihr Respekt und ihre Toleranz vor anderen“, sagte die Grünen-Politikerin Rebecca Harms einmal über sie, „konnten sehr abrupt enden, wenn Autoritäten hohl oder Hierarchien unbegründet waren.“ Das galt für ihre Mitstreiterinnen ebenso wie für ihre politischen Gegner.
Es gibt nicht viele Oppositionelle und Aktivistinnen, deren Ruf nicht korrumpiert oder relativiert werden kann, wenn sie, wie nun Fritzen, so viele und zugewandte Nachrufe erhalten und Würdigungen von den Spitzen der deutschen Bundesregierung, vom Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, von all den Etablierten also. Fritzen lehnte das Bundesverdienstkreuz ab, als sie es bekommen sollte, und kämpfte zeitlebens gegen politische Repräsentanten, die Polizisten schickten, um ein politisches Problem, ihren Atommüll, in Gorleben zu entsorgen. Sie kämpfte darum von Beginn an mit drei Tugenden: Dringlichkeit, Sachlichkeit und Höflichkeit.
Sie, 1924 geboren, die damals ja auch schon nicht mehr jugendliche Umweltschützerin, war die Erste, die der heute bundesweit bekannten Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg vorstand, und sie war diejenige, die dem Anti-Atomkraft-Protest seit den siebziger Jahren eine entscheidende Prägung verpasste: als ein Protest und ein Widerstand, der nicht nur laut, entschlossen und später auch massenhaft sein durfte, sondern der vor allem eine Eigenschaft haben musste: verstehbar zu sein. Es war diese – ja eigentlich: Lebensaufgabe –, die den prägenden Einfluss von Fritzen auf die deutsche Umweltbewegung und hinein in die grüne Partei so maßgeblich begründet.
Gewaltfreier Widerstand
Damals, 1977, als die Standortentscheidung für das Atommülllager Gorleben fiel, sollte plötzlich eine erregte Anwohnerschaft zu Kriminellen gemacht werden, zu Staatsfeinden und Umweltterroristen, und Fritzen stemmte sich gegen diesen Versuch. Es waren ja die Bauern, die Förster, die Ladenbesitzer, die sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machten. Tatsächlich zog es später nicht nur die Hippies ins Wendland, die dort die Freie Republik ausriefen, sondern auch die Militanten und Vermummten mit ihrem Brass auf den Staat.
Wenn heute der zivile Ungehorsam und der gewaltfreie Widerstand Begriffe sind, die in Deutschland zum Handwerkskasten der liberalen Demokratie gezählt werden, dann auch weil Fritzen das Prinzip der Gewaltfreiheit in Deutschlands etabliertester Protestwerkstatt, dem Wendland, so kontinuierlich eingefordert und geprägt hat. Die Umgangsform also war, neben dem Sachargument, das entscheidende Kapital in dieser Auseinandersetzung.
Ihrer späteren Nachfolgerin im Vorstand der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Kerstin Rudek, hielt Fritzen einmal vor, dass ihr Umgang mit Politikern zu unhöflich sei. Und es lag sicherlich nicht nur an Fritzens Umgangsform, sondern zunächst an ihrer unbestechlichen Hartnäckigkeit und menschenfreundlichen Autorität, dass Politiker bei ihr Rat suchten, auch um zu ertasten, wie es um ihr Urteil steht und um den Widerstand im Wendland. Es war an einem Wintertag im Jahr 2000, als der damalige grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin sich in seiner Dienstlimousine ins Wendland chauffieren ließ.
Er hatte, so erzählt Trittin es heute, an diesem Tag erfahren, dass Fritzen, die Mitbegründerin der Grünen war und für die Partei auch im Kreistag saß, aus seiner Partei ausgetreten war – weil Trittin im Zuge des Atomkonsenses Zugeständnisse an die AKW-Betreiber gemacht hatte. Und so ließ Trittin sämtliche Termine streichen, um zu ihr zu fahren. „Wenn jemand wie Marianne sagt, das kann ich nicht mittragen, dann war das ernst zu nehmen“, sagt Trittin. Er konnte sie am Ende, freilich, nicht überzeugen, wieder in die Partei einzutreten. Auch der heutige Wirtschaftsminister und frühere niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel holte sich wiederholt bei ihr Rat.
Fritzen wollte nie die „Mutter der Anti-Atomkraft-Bewegung“ sein. Sie lehnte diese Ikonisierung ab. Sie zog, ja, sieben Kinder groß. Das war Muttersein. Erst vor elf Tagen, in bester Verfassung, sagte sie bei einem Interview im Wendland zu einem Journalisten: „Du siehst, ich kann mich immer noch wahnsinnig aufregen.“ Fritzen starb in der Nacht zu Montag im Alter von 91 Jahren an den Folgen einer Herzoperation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen