Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler: Mit eisernem Besteck
Hans-Ulrich Wehler war der vielleicht einflussreichste Historiker der Bundesrepublik. Doch am Ende verstand er diese Republik nicht mehr.
Es erscheint uns selbstverständlich, dass wir Geschichte nicht als Analyse von Institutionen oder gar von großen Männern, die große Dinge tun, verstehen. Dass dies so ist, verdanken wir auch Hans-Ulrich Wehler. Wer weiß, ob unser Geschichtsbild ohne den Autor der monumentalen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ähnlich differenziert wäre?
Wehler, Begründer der Bielefelder Schule, hat die Sozialgeschichtsschreibung für die Bundesrepublik adaptiert, formuliert und durchgesetzt. Er blieb, unbeirrt von Moden, Anhänger von Max Weber und dessen Konzept, Gesellschaft in drei Sphären darzustellen: Wirtschaft, Politik, Kultur. Wer Gesellschaft verstehen will, muss Rationalisierungen, Klassenspaltung und soziale Ungleichheit untersuchen. Dieses eiserne analytische Besteck blieb über die Jahrzehnte bemerkenswert gleich, erweitert schließlich um Pierre Bourdieus soziologische Theorien.
Diese Art der Geschichtsschreibung stand in den 60er Jahren, wie Wehler gern amüsiert berichtete, im Ruch marxistischer Inspiration. Nichts war falscher als das! Die Sozialgeschichtsschreibung kam aus den USA, Marxismus war Wehler planetenfern. Sein Klassenbegriff war empirisch und bar jeder teleologischen Überhöhung.
Ein barscher Antiideologe
Wie viele seiner Generation, die verführte, überzeugte Hitlerjungen gewesen waren, war der Bielefelder Historiker imprägniert gegen alles Ideologische. Ja, er war auf eine Art antiideologisch, die in ihrer barschen Verständnislosigkeit selbst etwas Ideologisches haben konnte. Ein beredtes Zeugnis dieser Ignoranz ist die Schilderung der DDR im fünften Band seines Opus magnum, der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“. Die DDR erscheint darin als ferngesteuerter sowjetischer Satellit. Dass es dort auch sich verändernde Lebenswelten gab, blieb jenseits des Blicks.
In diesem fünften Band ist Bestaunenswertes zu finden, die beeindruckende, leichthändige und zu klaren Bildern verdichtete empirische Analyse. Aber sichtbar ist auch eine Art generationeller Beschränktheit. Zum spezifisch Neuen der Bundesrepublik, wie Migration und postmateriellem Abschied von der klassischen Industriegesellschaft, fiel dem Sozialhistoriker nicht viel ein. Es passte nicht ins Raster.
Der Postmaterialismus erscheint als zeitgeistiges Luxusphänomen, an das sich nach der nächsten Wirtschaftskrise niemand mehr erinnern wird. Bei dieser Diagnose mag der Wunsch Vater der Analyse gewesen sein: Für Wehler, typisch für die Generation der HJ und des Wiederaufbaus, zählte Leistung. Für Hedonismus, Gender, Post-68er fehlten ihm Antennen. In den späten Schriften wurden politische Zu- und Abneigungen überdeutlich. Zeitzeugenschaft kann auch ein arger Feind des Historikers sein.
Nicht weit von Sarrazin entfernt
Noch krasser war der Irrtum bei der Migration. Anstatt das Multikulturelle als fundamentale Umformung der Republik zu begreifen, finden sich nur abschätzige Notizen über „bildungsferne Migranten in ghettoartigen Wohnquartieren“. Das war nicht weit von Sarrazin entfernt. Dass Wehler mit viel Verve und wenig guten Argumenten die These verfocht, dass die Türkei nicht zu Europa gehöre, passt ins Bild. Der Historiker der Bundesrepubik hat am Ende die Republik nicht mehr verstanden.
Wehler war zeitlebens mit dem zwei Jahre älteren Jürgen Habermas befreundet, den er in Gummersbach in der Hitlerjugend kennen lernte. 1986 zogen beide, der Empiriker und der Theoretiker der Bundesrepublik, gegen den Versuch von Ernst Nolte, den Nationalsozialismus als Reflex auf den Bolschewismus zu deuten, ins Feld. Diese militärische Vokabel passt in Wehlers Verständnis, dass Wissenschaft „agonaler Wettbewerb“ ist, eine Art Leistungssport.
Beim „Historikerstreit“ ging es am wenigsten um historische Fakten. Er war vielmehr ein Kampf um die Deutungshoheit im Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus. Dieser Zwist endete mit einem Triumph der Linksliberalen Habermas & Wehler und der Selbstisolierung Noltes. Diese Kontroverse besiegelte damals das Selbstverständnis der Republik – nämlich dass die Anerkennung der Schuld untrennbar Teil des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses ist.
Nichts hat Wehler, der 1945 vierzehn Jahre alt war, so geprägt wie die Nazikatastrophe. Schon der Junghistoriker unterstützte 1961 Fritz Fischer, der unerhörterweise eine Linie sichtbar machte, die von dem Imperialismus des Kaiserreichs bis zu den Nazis reichte. Selbstaufklärung über die NS-Zeit war eine Leitidee von Wehlers Werk.
Der Oxford-Historiker Richard Evans bemerkte, er habe von Wehler nicht nur fachlich einiges gelernt, sondern auch eine beeindruckende Zahl deutscher Schimpfwörter. Hans-Ulrich Wehler war Empiriker und Polemiker, eine eher seltene Kombination. Am Samstag ist er, 82 Jahre alt, gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker