Nachruf auf Dorothea Buck: Den Schmerz verwandeln
Dorothea Buck wurde unter den Nazis zwangssterilisiert. Ihre Erfahrungen ließen sie zur Mitbegründerin einer menschlicheren Psychiatrie werden.
Sie selbst kam unter den Nationalsozialisten als junges Mädchen in die Psychiatrie, wo man sie zwangssterilisierte. Statt mit ihr zu sprechen, steckte man sie stundenlang in kalte Bäder. Diese Erfahrung, die für sie eine Demütigung war, hat sie nie vergessen. Sie hat sie zu einer leidenschaftlichen Kämpferin für eine Behandlung gemacht, in der erst einmal die Betroffenen die ExpertInnen sind. Sie sprechen – und die anderen hören zu.
Dorothea Buck war 19 Jahre alt, als sie den ersten von insgesamt fünf schizophrenen Schüben erlebte. Es war beim Wäschewaschen auf der Insel Wangerooge, wo sie als viertes von fünf Kindern einer Pastorenfamilie aufwuchs.
Sie beschrieb das Erlebnis als eine dreifache Gewissheit: dass es Krieg geben werde, dass sie einmal etwas zu sagen haben würde und dass sie Braut Christi sei. Sie lachte, als sie es erzählte: „Braut Christi, das haben ja viele Betroffene, viele Verrückte haben religiöse Erfahrungen“. Und bei einem anderen Gespräch beschrieb sie ausführlich, wie sie sich danach aufs Bett legte und sich ausmalte, was das wohl konkret bedeuten könnte: sie, die ohnehin Kindergärtnerin werden wollte, würde sich um die Kinder kümmern und Jesus, dem sie eine gewisse Humorlosigkeit attestierte, um die Erwachsenen.
Ein koboldhafter Charme
Wenn Dorothea Buck erzählte, tat sie das mit einer erstaunlichen Gleichzeitigkeit von Heiterkeit und bodenständiger Sachlichkeit. In einer Sprache, die gleichermaßen anschaulich und formvollendet war. Sie hatte etwas von einem alterslosen Kind an sich, den Mut, sich nicht um das Erwartete zu scheren, den freien Blick und einen koboldhaften Charme.
Nach dem ersten Schub bringen ihre Eltern Dorothea auf Anraten des Hausarztes in die von Bodelschwingh’schen Anstalten nach Bethel. Dass sie mit ihrer Tochter nicht über deren Erfahrung sprachen, zumindest nicht eingehend, ist nach dem Empfinden einer Freundin, der Filmemacherin Alexandra Pohlmeier, „das einzige, womit sie sich nicht hat aussöhnen können“. Und vielleicht eine der Antriebskräfte für Bucks unbedingten Willen zum Gespräch.
Die Anstalten werden von einem Theologen geleitet; das gibt den Eltern Zutrauen. Tatsächlich sind den PatientInnen Gespräche untereinander verboten, es dauert ein Dreivierteljahr, bis die Ärzte mit Dorothea Buck sprechen. Von der Wahl, vor die ihre Eltern gestellt werden, eine Wahl, die den Namen nicht verdient, erfährt die Tochter nichts: Entweder soll sie sterilisiert werden oder bis zu ihrem 45. Lebensjahr in der Anstalt bleiben – danach gilt sie als nicht mehr gebärfähig. Der Vater bittet um Aufschub der Operation. Vergeblich. Bei dem Eingriff geben die Ärzte vor, dass es um eine Blinddarmbehandlung geht – dass sie sterilisiert wurde, erfährt Dorothea Buck später zufällig von einer Mitpatientin.
Die Sterilisation macht alles, was sie sich zuvor erträumt hatte, zunichte: den Beruf als Kindergärtnerin, eine Ehe, eigene Kinder. Unter den Nationalsozialisten durften Zwangssterilisierte keine sozialen Berufe ausüben und es war ihnen verboten, Nichtsterilisierte zu heiraten.
Dorothea Buck ist es gelungen, das Grauenhafte, das ihr widerfuhr, in etwas Produktives zu verwandeln. Sie beschrieb es so: „Erst als mir der Gedanke des Selbstmords kam, konnte ich wieder Grund unter die Füße bekommen.“
In der Praxis sah es so aus, dass sie sich erst ein Jahr, dann zwei, dann fünf gibt, um ein neues Leben aufzubauen. Sie besucht eine private Kunstschule – und verschweigt dabei Psychiatrieaufenthalt und Sterilisierung – wird Bildhauerin und Lehrerin für Kunst und Werken an der Fachschule für Sozialpädagogik in Hamburg.
Es ist schwierig, ihre Mutter-Kind-Skulpturen zu sehen, ohne an ihre eigene Geschichte zu denken. Eine solche Arbeit hat Dorothea Buck der Berliner Charité gestiftet. Im Begleitbrief schrieb sie, dass die Plastik die Beziehung zwischen zwei Menschen ausdrücke und dass eben jene Beziehung in der gegenwärtigen Psychiatrie fehle. Weil dort nicht genügend gesprochen werde.
In den 80er-Jahren geht Dorothea Buck mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Sie besucht ein Seminar des Leiters der psychiatrischen Ambulanz der Uniklinik Hamburg, Thomas Bock. Der wird sie seine „ wichtigste Lehrerin“ nennen und erinnert sich daran, wie selbstbewusst sie dort auftrat, ungewöhnlich selbstbewusst für eine Psychiatrie, die Menschen mit Psychosen nahelegt, defizitär zu sein. Gemeinsam entwickeln sie das Konzept trialogischer Psychose-Seminare: einen gleichberechtigten Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und den professionell in der Psychiatrie Tätigen. Das Modell macht bundesweit Schule.
Sich selbst, die eigene Erkrankung, begreift Dorothea Buck als Forschungsobjekt. Die Psychose erlebt sie früh als Möglichkeit, aus Impulsen heraus zu leben – und ist sich dabei bewusst, dass für andere Schizophrene der Kontrollverlust bedrohlich wirken kann. Sie beschreibt die Schübe als „verändertes Welterleben, man spürt überall Sinnzusammenhänge, ohne sie näher benennen zu können“. Aber erst nach dem letzten Schub Ende der 1950er-Jahre erkennt sie, dass er aus ihrem eigenen Unbewussten kommt. Psychosen deutet sie als Folge von Lebenskrisen, die gelöst werden wollen, es wäre für Buck fatal, sie mit Medikamenten zu unterdrücken.
Biografie unter Pseudonym
1990 veröffentlicht sie ihre Biografie „Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung“, zunächst noch unter dem Pseudonym Sophie Zerchin, einem Anagramm des Wortes Schizophrenie. Das Buch erscheint im Verlag ihrer Schwester und vielleicht kann man das als nachgeholtes Gespräch in der Familie deuten. Es wird ein Erfolg, man lädt sie zu Vorträgen ein, schließlich erscheint es unter ihrem eigentlichen Namen.
Die Psychiatrie der 90er-Jahre ist reif für eine Veränderung: 1992 begründet Buck den Bundesverband Psychatrieerfahrener mit, sie gründet eine eigene Stiftung, die Psychiatrieerfahrene zu GenesungsbegleiterInnen ausbildet. Es ist eine Zeit der Selbstermächtigung und Dorothea Buck, damals bereits über 70 Jahre alt, wird zu einer Ikone dieser Bewegung.
Gespräche statt Medikamente
Dorothea Buck sah die Fortschritte, sie warnte aber auch vor den PsychiaterInnen, die noch immer nur auf Medikamente setzen statt auf Gespräch. Und sie ließ nicht locker: Vor gut zwei Jahren, da war Dorothea Buck 99 Jahre alt, kam die Hamburger Gesundheitssenatorin zu ihr, um ihr die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes zu verleihen. Buck freute sich über die Medaille. Zugleich freute sie sich über die Möglichkeit, eine Klinik anzuprangern, in der die PatientInnen besonders lange fixiert wurden.
Sie hat ihre letzten Jahre im Albertinen-Haus in Hamburg verbracht, wo sie früher einmal als grüne Dame die Kranken besucht hat. Sie wolle das Lesen „nachholen und ausruhen“, so hat sie ihr Leben dort beschrieben. Zu Ehren ihres 100-jährigen Geburtstags widmete man ihr ein Symposium mit 600 Gästen: „Auf der Spur des Morgensterns. Menschenwürde + Menschenrechte in der Psychiatrie“. Per Skype wurde sie selbst aus dem Albertinen-Haus dazugeschaltet.
Aber die Menschen kamen auch zu ihr, sie kamen so zahlreich, dass eine Freundin den Besucherstrom abstimmen musste. In Dorothea Bucks Zimmer hingen Briefe von PsychatriepatientInnen, die ihr dankten. Ihre Heiterkeit blieb unangefochten von ihrer körperlichen Hinfälligkeit. Sie kannte die Namen aller Pflegenden, sie fragte sie nach ihrem Leben und sie merkte sich, was sie ihr erzählten.
Als sie am 9. Oktober stirbt, „heulen die PflegerInnen Rotz und Wasser“, erzählt Alexandra Pohlmeier. Am 1. November wird Dorothea Bucks mit einer Trauerfeier in der Niendorfer Marktkirche gedacht.
Anmerkung der Redaktion: Auf Wunsch eines Gesprächspartners wurde gegenüber einer früheren Fassung ein Zitat gelöscht. Außerdem wurde in der Passage „Dorothea Buck sah die Fortschritte, sie warnte aber auch vor den PsychiaterInnen, die noch immer nur auf Medikamente setzen statt auf Gespräch“ ein „nur“ ergänzt.
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