Nachruf auf Bruno Latour: Das Recht der Dinge
„Wir sind Erdlinge, nicht Menschen“ – sagte der Philosoph und Wissenssoziologe Bruno Latour. Nun ist er mit 75 Jahren gestorben.
„Der berühmteste und der am wenigsten verstandene französische Philosoph“, so nannte ihn einmal der New Yorker. Als bekannt wurde, dass in der Nacht auf den 9. 10. der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour gestorben war, explodierte das Internet vor Kommentaren und Trauer-Posts.
Berühmt war Latour auf jeden Fall, einmal wurde er sogar zum meistzitierten Philosophen der akademischen Welt gekürt. Seine Bücher waren Bestseller in über 20 Ländern. In einer Welt, in der es Pop-Philosophen auf der einen und eine verschlossene akademische Welt auf der anderen Seite gibt, war Bruno Latour eine Ausnahme: Er war beides zugleich, öffentlicher Intellektueller und Fachgelehrter.
Nein, „unverstanden“ war Bruno Latour nicht. Neben Judith Butler gab es in den letzten 40 Jahren kaum einen Philosophen, dessen Werk so tief auf die kollektive Vorstellung dessen einwirkte, was der Mensch, was die Welt und was Wissen ist – und wie alles miteinander zusammenhängt.
Latours frühe und radikale Kritik technischen Machbarkeits- und Fortschrittsglaubens, seine späteren Aufrufe für eine Hinwendung zum „Terrestrischen“, als Alternative zur neoliberalen Globalisierung genauso wie zur nationalistischen Abschottung: Sie haben eine ganze Generation geprägt. Nach dem Tod von Pierre Bourdieu gab es keinen anderen Soziologen, dessen Ideen ich so unterschiedslos an besetzten Flughäfen, auf Biobauernhöfen, in Theatersälen oder Ausstellungen, akademischen und aktivistischen Kongressen antraf.
Ein Generalist, auf allen Gebieten aktiv
„Ich betrachte mich als Philosophen, auch wenn es die Philosophen nicht tun“, sagte mir Latour einmal ironisch. Er war ein Generalist, auf allen Gebieten aktiv. Im halben Jahrhundert seiner Karriere beschäftigte sich Latour, geboren 1947, mit schlichtweg allem: Recht, Technik, Religion, Mythen der Moderne und natürlich Ökologie. Latour hat dem Milchsäurebakterium genauso seine Aufmerksamkeit geschenkt wie einer neuen Metrolinie. Der Coronapandemie wie der oft verspotteten Gaia-Hypothese, der Flüchtlingspolitik genauso wie Kafka.
Seine „Unverständlichkeit“ lag vor allem in der Zertrümmerung aller modernen, oft auch linken Denkverbote. In seiner in den 70er und 80er Jahren entwickelten „Soziologie der Assoziationen“ verflüchtige sich der zentrale Gegenstand seiner Disziplin (die menschliche Gesellschaft) nicht nur in Foucaultsche „Diskurse“, sondern wurde gleich ganz zugunsten von Objekt-Subjekt-„Assemblagen“ aufgegeben.
Verglichen mit Latours Ansatz schienen postmoderne Bemühungen zur Zerstörung des Subjektbegriffs geradezu zaghaft. In seinem Erstling „Laboratory Life“ (1979) bezeichnete er die Beschränkung der Soziologie auf menschliche Akteure als „moderne Selbsttäuschung“. Das Ozonloch, eine Bodenschwelle, eine Kuh, ein Schlüsselanhänger oder ein Kühlschrank wurden in seinen wissenssoziologischen Schriften zu gleichberechtigten sozialen „Aktanten“.
Neben dem kurzen, prägnanten „Terrestrischen Manifest“ (2018) ist Latours epochaler Essay „Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie“ (1995) wohl am wirkmächtigsten geworden. Darin kam seine Soziologie kurz nach dem Fall der Berliner Mauer zu sich selbst: Sie erhielt eine moralische und politische Konsequenz.
Ein „Parlament der Dinge“
Im letzten Kapitel des „Versuchs“ fordert Latour ein „Parlament der Dinge“, eine politische Ökologie, einen Übergang von der modernen Doktrin der Naturbeherrschung zu einer Doktrin der Partizipation aller an der Demokratie, auch der „Ding-Kulturen“: „Wir haben keine Wahl. Wenn wir nicht in ein anderes gemeinsames Haus ziehen, werden wir die anderen Kulturen, die wir nicht mehr beherrschen können, nicht darin unterbringen.“
Was bleibt von Bruno Latour, der – unseren Planeten in all seiner Komplexität beschreibend – selbst einen Planeten an Wissen, Querverweisen, Ideen geschaffen hat? Im Anschluss die fünf zentralen Punkte der Latourschen Wissensrevolution für eine Welt, die zwischen Fake-News und Aktivismus, Überinformiertheit und Handlungsunfähigkeit gefangen ist.
Eins: Die Wahrheit ist immer relativ. Latours Erstling „Laboratory Life“ ist, wie so oft in wissenschaftlichen Karrieren, sein radikalstes Buch. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Elfenbeinküste kehrt der junge Anthropologe nach Europa zurück und richtet seinen analytischen Blick auf das Herz des europäisch-imperialen Wissens: auf das Labor, auf die sogenannte „wissenschaftliche“ Wahrheit. Wobei die Wahrheit nicht relativ an sich ist, sondern relativ in Bezug auf die Beziehungen, in denen sie auftaucht.
Wer sucht wonach, mit welcher Reputation, mit welcher Förderung und in welchen Netzwerken? Auf einen Schlag pulverisiert Latour das, was spätere Theoretiker „Herrschaftswissen“ nennen werden.
Erdlinge, keine Menschen
Zwei: Das Reale ernst nehmen. Verglichen mit Latours wissenssoziologischen Klassikern – nach „Laboratory Life“ sollte er noch zu vielen weiteren Forschungseinrichtungen, Krankheiten und technisch-zivilisatorischen Großkomplexen schreiben – wirkt die heutige Institutionskritik oft ideologisch: alles nur Macht, alles nur Konstruktion! Aber auch Latour selbst kämpfte gegen den Vorwurf, ein typisch postmoderner „Post-Truth Philosopher“ zu sein.
Dabei war seine Botschaft radikal realistisch: Das Verschwinden der „objektiven“ Wahrheit macht Platz für eine viel komplexere kulturelle und ökologische Untersuchung des Planeten. Der Blick richtet sich auf das „Netzwerk“, in dem Tatsachen entstehen, nicht mehr nur auf die Tatsachen selbst. Womit der Mensch sichtbar wird als genauso abhängiges wie verletzliches, in der Biosphäre ausgesetztes Wesen.
Drei: Wir sind Erdlinge, nicht Menschen. Eine Konsequenz aus Latours relationalem und materialistischem Wirklichkeitsverständnis ist die Idee der Endlichkeit. Das Fortschrittsprojekt der Aufklärung stützte sich statt auf die verfügbare auf eine virtuelle Vielzahl von Erden. Dem setzt Latours Soziologie eine radikale Immanenz entgegen: „We are locked in“, wie er einmal sagte, die Zone des Lebens ist dünn und lokal. Nach Hunderten von Jahren, in denen sich der Mensch als extraterrestrisches Wesen verstand, müssen wir wieder „landen“, im Hier und Jetzt.
Vier: Wir alle sind wie Trump. Die Postmoderne – und Latour selbst – hat uns mit der Idee der Relativität aller Wahrheit eine gefährliche Erbschaft hinterlassen. Denn die Waffe des Skeptizismus sollte sich spätestens im Zeitalter des Rechtspopulismus gegen die Aufklärung selbst wenden.Die Herrschaftskritik wurde zur Waffe der Herrschenden – und richtete sich gegen den Planeten insgesamt. Oder wie Donald Trump es einmal ausdrückte, als ihm jemand die Fakten zum Klimawandel vorlegte: „Das ist Ihre Meinung, lassen Sie mich meine haben.“ Das Problem ist nur: Wir alle sind wie Trump. Man muss den Klimawandel nicht leugnen, um weiterhin ein „abstraktes“ Leben zu führen, das in keiner Weise der kommenden Katastrophe entspricht.
Fünf: Seien wir radikal. „Nach hundert Jahren Sozialismus, der sich auf die Umverteilung der Gewinne der Wirtschaft beschränkte, ist es an der Zeit, einen Sozialismus zu erfinden, der die Produktion als solche in Frage stellt“, schrieb Latour während des Lockdowns. Im letzten Buch, das von ihm ins Deutsche übersetzt wurde („Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“) erklärt er Gregor Samsa – Kafkas Figur, die in einen Käfer verwandelt wird – zum Helden unserer Zeit: Der Anti-Elon-Musk, der finale Erdling, eingeschlossen im Lokalen, gezwungen, mit seiner Kreatürlichkeit fertigzuwerden.
Ich traf Bruno Latour über die Jahre vielleicht fünf oder sechs Mal, ab und zu telefonierten wir. Mit der „General Assembly“ versuchten mein Team und ich, sein „Parlament der Dinge“ 2017 in die Realität zu übersetzen: Abgeordnete der Bienen, der Ozeane, des Klimas, der Waffen- und Autoindustrie debattierten mit Diplomaten, Politikern, Aktivisten. Auch unsere „School of Resistance“ ging auf eine von Latours Ideen zurück: Ein Gegennetzwerk globaler Aktivisten, Bauern, Anwälte und Wissenschaftler zu schaffen, eine alternative Globalisierung des widerständigen Wissens.
Als ich letztes Mal in Paris war, in der Hektik des Nach-Covid, vergaß ich, Latour zu treffen, obwohl mir die Schwere seiner Krankheit bewusst war. Das bedauere ich nun sehr.
Milo Rau, Leiter des belgischen Stadttheaters NTGent. Zuletzt von ihm erschien: „Theatre is Democracy in Small“, EPO Publishers 2022
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“