Nachruf auf 68er Ulrich Fischer: War einmal ein Revoluzzer
… ganz gewiss kein Lampenputzer! Uli Fischer zählte zum Kern des SDS, war Grünen-Abgeordneter und Menschenrechtler. Jetzt ist er gestorben.
In den fünfziger Jahren, als das junge Grundgesetz der Bundesrepublik zuerst von einem Mann geschützt wurde (Otto John), der zu den Russen überlief, und dann von einem alten Nazi (Günther Nollau), hielt sich die ehrwürdige Hansestadt Lübeck einen ungewöhnlich hochtalentierten Spitzel. Dieser Schlapphut sah weit in die Zukunft, er erkannte Verfassungsfeinde schon im Kindesalter – und so kam Ulrich Fischer, ein 14-jähriger Gymnasiast, zu seiner eigenen Karteikarte. Amtlich registriert als Verfassungsfeind.
Was der strubblige Oberschüler angestellt hatte? Ein Flugblatt geschrieben, gedruckt und verteilt. Was er darin gefordert hatte? Nein, nicht die Weltrevolution. Nicht einmal einen kleinen Aufstand oder die Zertrümmerung des Lehrerzimmers. Nur eine andere Pausenregelung an seinem Gymnasium. Schon bist du ein Verfassungsfeind. Verfassungsfeind Ulrich Fischer, genannt Uli.
Sein ganzes Leben lang hat er seither alle möglichen Ordnungsmächte in zahlreichen Ländern ins Grübeln gebracht, zu Spesen verleitet, Observationen in Gang gesetzt und die wechselnden Staatsschützer an das Endliche aller Mühen erinnert. Er war eben ein richtiger „Alt-68er“. Einer von wenigen, nämlich ein echter.
Dazu bedarf es eines langen Atems, guter Gene, Ich-Stabilität und Angstfreiheit. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und der Sprache wirklich mächtig. So einer war Uli Fischer. Nun ist er gestorben, 77 Jahre alt, ganz friedlich.
Rudi Dutschke, der deutsche Urquell der 68er-Bewegung und ihrer unsterblichen Mythen, schätzte die Zahl der wirklichen Genossen auf 150 bis 180 in ganz Deutschland. Zum harten Kern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Westberlin zählte er vierzig bis fünfzig. Von denen wurde erwartet, dass sie mindestens 12 Stunden am Tag politisch für die Ziele des SDS arbeiteten. Fischer war einer von denen. Zwölf Stunden pro Tag, jeden Tag, jahrelang.
Als die Westberliner Polizei am 5. Mai 1970 ein Fahndungsfoto von ihm herausgab, auf dem er aussieht, als wolle er den Müßiggang der Friseure anklagen, wurde dem FU-Studenten gleich noch eine lange Liste rechtsstaatlicher Verwicklungen beigelegt: Landfriedensbruch, schwerer Aufruhr, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch.
Den Hausfriedensbruch soll Fischer praktischerweise im eigenen Haus begangen haben. Denn der Struwwelkopf war der stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) der FU, mithin einer Säule der akademischen Demokratie. Seinerzeit war vieles Deko, auch das Polizeifoto.
Während der brave Westberliner zum „Augen auf und mitgefahndet“ animiert wurde, saßen Fischer und zwei Mitgefangene schon längst in Polizeigewahrsam. Nachts im Gefängnis in Moabit, tagsüber in den Verhörzimmern des Landeskriminalamts. Die Anklage war von größerem Kaliber: Brandanschlag auf das Amerika-Haus.
Das Attentat und die Ente mit 16 PS
Weil im SDS international gedacht und politisiert wurde, der Vietnamkrieg eskalierte, Studenten aller Kontinente als Genossen galten, kurzum: die Erschießung von vier US-Studenten durch die US-amerikanische Nationalgarde auf dem Campus der Universität Kent nicht ohne Antwort bleiben sollte, waren 20 Demonstranten in fünf Personenwagen des Nachts um drei Uhr zum Amerikahaus am Bahnhof Zoo gefahren, schlugen dort 22 Fensterscheiben ein und warfen sechs Molotowcocktails. Alle Täter sprinteten davon – nur Fischer stand an der Tür und zerrte an einem Mittäter. Der fand die Flammen so schön und wollte sie noch ein bisschen genießen, auch deshalb, weil Haschisch so gelassen macht. Es dauerte die entscheidenden Sekunden, den entspannten pyromanischen Genossen in ein Auto zu stopfen und dann gemeinsam mit zwei anderen Aktivisten das letzte Fluchtauto zu starten, einen französischen Citroën 2 CV, die „Ente“, 16 PS.
Ein Jahr hat Uli Fischer in Moabit gesessen und es war ein böses, bitteres Jahr. In diesem festen Haus herrschte seit hundert Jahren ein übler Geist, von Reformen war noch keine Rede. Damals vor 50 Jahren herrschte eine andere Grundstimmung als heute: Der SDS, die „Studentenrevolte“, wollte schließlich die Gefängnisse abschaffen, natürlich auch deren Beamte und die Justiz. Und nun hatte man einen von diesen Revoluzzern …
Nach seiner Entlassung machte sich Fischer auf zum Kilimandscharo, Gipfelhöhe 5.935 Meter. Reisen und Reden gehören zu den Kerngenen eines Politologen. Fischer hat mehrfach die Welt umrundet, er kannte Flughäfen, die nicht einmal im Kreuzworträtsel stehen, und politische Menschen überall, die gerade auf der Klettertour nach oben oder dem freien Fall nach unten waren. Fischers erstaunliches Talent zur richtigen Prognose war dabei sein Kompass, seine Sprachbegabung waren die Flügel und die Rednergabe war der variable Motor.
Besuch bei den Vietcong in Ostberlin
Anfang der siebziger Jahre besuchten wir beide die diplomatische Vertretung des Vietcongs in Ostberlin zwecks Abgabe einer Spende. 1.200 Westmark von Ärzten. Diese nahm ein kleiner, ziemlich junger Ho-Chi-Minh-Diplomat entgegen, der sich in zierlichem Französisch bedankte, worauf Fischer ebenso graziös erwiderte. Es hörte sich an, als hätten die beiden das vornehme Lycée Louis-le Grand im 5. Arrondissement von Paris absolviert. Immerhin: Der Vietcong hatte im Hof ein neues blitzblankes VW Cabriolet stehen, mit Pariser Nummer.
Fischer fuhr als Dienstwagen nur ein Berliner Taxi, schon etwas abgenudelt. Von irgendetwas musste er ja leben. Seine Compagneros vom SDS und dem AStA hatten sich zerstreut, mehr nach rechts in die verschiedenen Formen des Staatsdienstes und der Lehre oder auch ganz nach links. Das hat einigen den Umgang mit Handfeuerwaffen, anderen die miefige Luft kleiner Knastzellen eingetragen. Den Werbern für die Weltrevolution, mal hier, mal da, hat Fischer stets deutlich abgesagt. Lediglich der Roten Hilfe stand er einige Jahre ehrenamtlich bei.
Ja, Uli Fischer hat auch geheiratet: Astrid, früher Sekretärin des FU-AStA. Eine glückliche Ehe, vier Söhne. Erst der Tod hat Uli und Astrid geschieden. Ende der siebziger Jahre zog die Familie ins Hessische, ziemlich nahe an die innerdeutsche Grenze, die dort einen sehr gewundenen Verlauf nahm. Das nannte man „Fulda Gap“. Und das Fulda Gap wurde fast über Nacht richtig berühmt. Hier werde – so der weitverbreitete Glaube – bald, sehr bald der dritte Weltkrieg ausbrechen, Ost gegen West, Nato gegen die Russen. Der finale Atomkrieg, nicht zu verhindern. Es sei denn, man wirft die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen namens „Pershing“ umgehend in den Müll.
Gegen Pershing II – und das sowjetische Gegenstück SS 20
Darum ging es: Weg mit den Pershings, diesem Teufelszeug. Nolens volens wurde Uli Fischer Raketenspezialist. Schließlich hatte er als Wehrpflichtiger in der Bundeswehr gedient (bis er sich als Wehrdienstverweigerer herausklagte) und vor allem: Er sprach akzentfrei Amerikanisch, weil er als Schüler ein Jahr im Mittleren Westen der USA gelebt hatte, fernab aller deutschen Laute.
Der drohende Weltkrieg brachte es mit sich, dass die Diskussionen lebhaft, emotional und tricky geführt wurden. Einmal bei einem Treffen wollten die anwesenden 40 DDR-Sympathisanten partout das Wort „SS 20“ nicht hören. Die SS 20 war die Dublette der Pershing, produziert von der Großen Sowjetunion. Sie wurde auf dem Boden der DDR tief in den Wäldern versteckt, Zielrichtung Westen. Uli Fischer berichtete dem Auditorium von einem Gespräch, das er in der Vorwoche als Bewohner des Fulda Gap mit einem amerikanischen Oberstleutnant geführt habe. Über Pershing und SS 20. Um keine sprachlichen Missverständnisse aufkommen zu lassen, gab er die US-Argumentation in Englisch wieder, und zwar in der Offiziersdiktion der West Point Academy. Alle blieben ganz still. Nach dieser Lektion gab es noch eine deutsche Zusammenfassung, in der SS 20 und Pershing gleichrangig vorkamen.
Fischers Dienstfahrzeug war zu dieser Zeit ein Rabauken-Motorrad. Eine Yamaha 500, 1 Zylinder, 27 PS, Stollenreifen, geländegängig. Fischers Begleiter fuhr eine 750er Honda, vier Auspuffe. Was werden sich die sowjetischen Friedensfreunde wohl gedacht haben?
Als Abgeordneter im Bundestag
„Ihre Redezeit ist abgelaufen“, beschied der Vizepräsident des Deutschen Bundestags, ein SPD-Amtsträger namens Westphal, dem Abgeordneten Ulrich Fischer am 24. Januar 1986, als der seinen Parlamentskollegen die Position der Grünen zu den Menschenrechten und einer Amnestie für die Unterstützer der Roten Armee Fraktion (RAF) nahebringen wollte.
Fischers parlamentarische Karriere blieb kurz. Zwar gehörte er der ersten Fraktion der Grünen an, die 1983 in den Bundestag einzog, allerdings nur als Nachrücker. Bis Januar 1986 musste er warten, um bis zur Bundestagswahl ein Jahr später das Abgeordnetenmandat des herausrotierten Hubert Kleinert zu übernehmen.
Weil es ihm nicht gelang, von den Grünen wieder für den Bundestag aufgestellt zu werden, tat Fischer fürderhin das, was er am liebsten tat. Durch „stille Diplomatie menschliche Schicksale erleichtern“. Gestützt durch die Grünen-Fraktion und evangelische sowie andere karitative Organisationen, aktiv in sehr ungastlichen Ländern Osteuropas und des Balkans, hart im Nehmen. Aber eben auch oft erfolgreich. Er galt als ausgewiesener Afghanistanexperte, half den Friedens- und Menschenrechtsbewegungen in Osteuropa, kannte Tod und Teufel.
Am 12. Juli 2020 ist Ulrich Fischer in Bonn am Rhein gestorben. Sein Tod kam schnell und ohne Schrecken. Am kommenden Samstag wird seine Asche zur Erde gebracht. In einem Friedwald bei Berlin.
Hans Halter (82), Arzt und ehemaliger „Spiegel“-Redakteur, war ein langjähriger Freund von Ulrich Fischer
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