Nachbarschaft in Syrien: Die Kraft des Brotes
In Qamischli ist Brot nicht nur ein Lebensmittel, das die hungrigen Bäuche sättigt. Es schlägt auch eine Brücke zwischen Bewohner:innen der Stadt.
W enn früh am Morgen das zarte Sonnenlicht auf die Straßen von Qamischli im Nordosten Syriens fällt, versammeln sich viele der Einwohner:innen vor den Bäckereien der Stadt. Es ist die unausgesprochene tägliche Verabredung. Und nichts deutet darauf hin, dass die langen Warteschlangen im Straßenbild mehr sein könnten als das ermüdende Anstehen für einen runden Laib Brot voller Löcher – außen knusperig braun und so köstlich duftend, dass man schon auf dem Nachhauseweg davon nascht.
Was dort tatsächlich geschieht, ist etwas ganz anderes. Tag für Tag warten vor den Bäckereien Männer in einfacher Arbeitskleidung, bereit für einen langen Tag, einige in verblichenen Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln, andere in traditionellen Dishdashas-Gewändern mit Tüchern über den Schultern gekleidet. Frauen in schwarzen Abayas-Kleidern mit bestickten Tüchern und alten Stofftaschen für das Brot in den Händen. Verschlafene Schulkinder, den Ranzen auf den Rücken geschnallt und ältere Menschen, die sich auf Holzstöcke stützen oder auf einem Stein in der Nähe sitzend warten, bis sie an der Reihe sind.
Die Journalistin Ronak Mohammad Shikhi hat Medienwissenschaften an der Universität Damaskus studiert. Sechs Jahre lang arbeitete sie als Kriegsberichterstatterin, berichtete u.a. über Sozial-und-Jugend-Themen und die Wiedereingliederung von IS-Kämpfern. Darüber hinaus gilt ihr journalistisches Interesse Klimathemen. Derzeit ist Shikhi als Korrespondentin für den emiratischen Sender Al Mashhad tätig. Sie ist eine von elf Teilnehmerinnen des Projekts „Her turn – Supporting Syrian female journalists“, das von der taz Panter Stiftung initiiert wurde.
Manchmal höre ich dort einen Satz auf Arabisch, dann auf Kurdisch oder Aramäisch und in dem hier typischen Jazira-Dialekt, der die Sprachen miteinander verbindet. Oft gefolgt von Gelächter oder einer sarkastischen Bemerkung. Hier ist das Brot nicht nur ein Lebensmittel, um die vielen hungrigen Bäuche vor der Schule oder Arbeit zu sättigen, vielmehr schlägt es eine Brücke, die die Bewohner:innen unterschiedlicher Religionen, Sprachen, Klassen und Generationen miteinander verbindet. Das Brot, das wir teilen, stimmt uns solidarisch miteinander, es gibt uns ein Gefühl von Zugehörigkeit.
Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem ein älterer kurdisch stämmiger Mann einen Laib Brot aus der Tüte zog und fragte: „Ist das Brot oder Gold?“ Die Wartenden brachen in Gelächter aus. Dass man hier bis zu einer Stunde lang auf einen Laib Brot warten musste, der teuer war, erschien absurd. Dass man es dennoch tat und gemeinsam darüber lachen konnte, tröstlich.
Am 8. Dezember 2024 fiel das Regime des syrischen Langzeitmachthabers Baschar al-Assad. Die taz Panter Stiftung hat Journalistinnen von Damaskus bis Qamishli in einem hybriden Workshop zusammengebracht. Wie lebt es sich heute in dem in weiten Teilen zerstörten Staat? Von ihrem Alltag berichten sie zwischen Trümmern und Träumen. ➝ zur Kolumne
Illustration: Hamed Eshrat
Es ist schon bemerkenswert, dass sich viele der Vorurteile gegenüber meinen Nachbarn, die mir früher durch den Kopf gingen, an der Bäckerstür auflösten. Onkel Mahmoud, der mürrisch wirkende Mann von nebenan, erwies sich als guter Witzeerzähler, der mit den Kindern in der Warteschlange spielte. Eine Frau, die bei Begegnungen in unserem Viertel unnahbar wirkte, erzählte einmal mit sanfter Stimme, wie das Brot an Feiertagen kostenlos an Christen verteilt wurde. Hier in der Warteschlange schmolzen selbst die hartnäckigsten Stereotype dahin. Denn niemand fragte: Zu welcher Partei gehörst du? Oder zu welcher Konfession? Die alles entscheidende Frage lautete: Bist du an der Reihe? Oder: Möchtest du ein Brot für die kranke Nachbarin mitnehmen, die es nicht mehr bis zum Bäcker schafft?
Es stimmt, dass 14 Jahre Bürgerkrieg Wunden und Bitterkeit bei den Menschen hinterlassen haben, doch die morgendlichen Gespräche der Wartenden vor den Bäckereien meiner Stadt brachten die Menschen zusammen.

Wenn ich an diesen Tagen mit den noch warmen Broten nach Hause komme, habe ich das Gefühl, dass ich nicht nur Brot für meine Familie mitgebracht habe, vielmehr viele kleine Geschichten voller Freude und Mitmenschlichkeit. Sie erinnern mich daran, dass das kulturell vielfältige Qamischli Vorbild für ein gutes Zusammenleben in Syrien sein kann.
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