Nach den Wahlen in der Türkei: Der Übergang ins Präsidialsystem
Recep Tayyip Erdoğan ist nun Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident kann Dekrete erlassen.
Kritiker befürchten, dass das neue System eine Ein-Mann-Herrschaft ermöglicht. Die Verfassungsexperten der „Venedig-Kommission“ des Europarates warnten mit Blick auf die Reform vor einem „gefährlichen Rückschritt in der verfassungsmäßigen demokratischen Tradition der Türkei“. Die wichtigsten Änderungen im Überblick.
Bereits umgesetzt
Der Präsident darf einer Partei angehören: Erdoğan trat im Mai 2017 erneut der von ihm mitbegründeten islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei. Im selben Monat ließ er sich wieder zum Parteivorsitzenden wählen.
Der Präsident hat mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) kann er vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident ebenfalls auswählt. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Der Rat wurde bereits im Mai 2017 neu besetzt. Im alten System hatten die Juristen selbst die Mehrheit des zuvor 22-köpfigen Gremiums bestimmt.
Die Militärgerichte wurden abgeschafft.
Umsetzung mit den Wahlen
Parlament und Präsident werden am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt. Beide Wahlen waren eigentlich für November 2019 geplant, Erdoğan hat sie aber vorziehen lassen. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung einer von ihm selbst bestimmten Anzahl Vizepräsidenten und Minister sowie aller hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitspracherecht. Mitglieder des Kabinetts dürfen nicht Abgeordnete sein. Wer für die Präsidentschaft kandidiert, darf sich nicht zugleich um ein Abgeordnetenmandat bewerben.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Präsidiale Dekrete dürfen Verfassungsrechte nicht einschränken und schon gesetzlich bestimmte Regelungen nicht betreffen. Gesetze darf – bis auf den Haushaltsentwurf – nur noch das Parlament einbringen.
Die Anzahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftelmehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt – unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten eine Neuwahl beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.
Die Zählung der Amtszeiten beginnt unter dem neuen Präsidialsystem neu. Erdoğan ist also nach seinem Wahlsieg in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür – und bei entsprechenden Wahlerfolgen – könnte er damit theoretisch bis 2033 an der Macht bleiben.
Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“