Nach dem Terrorangriff in London: Steilvorlage für Johnson
Der Terrorist von der London Bridge nahm an einem Resozialisierungsprogramm teil. Jetzt ist der liberale Strafvollzug unter Beschuss geraten.
D as Déjà-Vu-Gefühl ist unvermeidlich: Wieder ein Terrorangriff auf der London Bridge, wieder kurz vor einer britischen Parlamentswahl. Aber für einen direkten Vergleich mit 2017 ist der neue Angriff zu speziell.
Ein vorzeitig aus der Haft entlassener islamistischer Terrorist, der eine elektronische Fußfessel trägt und Reiseverbot nach London hat, wird ausgerechnet von führenden Kriminologen nach London eingeladen, um auf einer Feier zu sprechen. Seine zwei langen Messer und seine Sprengstoffattrappe bleiben unbemerkt, und als er auf die Konferenzgäste losgeht, jagen ihn ein Angestellter und ein ebenfalls als Gast geladener Mörder auf Freigang mit einem Schaumfeuerlöscher und dem Stoßzahn eines Narwals auf die Brücke über die Themse, wo er erschossen wird. Das klingt fast wie ein Fernsehkrimi.
Wenn dieser Angriff politisch etwas erschüttert, dann die Gewissheiten eines liberalen Strafvollzugs, der auf Vertrauen und Rehabilitation setzt. Es ist der erste Terrorangriff durch einen verurteilten Terrorhäftling in Großbritannien. Wieso kam Usman Khan, aktiv am gewalttätigen Ende der islamistischen Kaschmir-Sympathisantenszene, trotz zweier Verurteilungen 2012 und 2013 zu 16 Jahren Haft schon Ende 2018 wieder frei? Wieso war er trotz der ihm auferlegten Restriktionen unbeaufsichtigt in London? Wieso galt er als „entradikalisiert“? Und welche Glaubwürdigkeit hat nun das als wegweisend gepriesene Programm „Learning Together“ der Universität Cambridge, bei dem sich Akademiker mit Straftätern zum Erfahrungsaustausch treffen, auf dessen Fünfjahresfeier der Anschlag passierte?
Die Forderung nach mehr Härte in der Justiz gehört zu den festen Elementen konservativer Wahlkämpfe in Großbritannien. Dieser Anschlag war dafür eine Steilvorlage. Boris Johnson müsste sich schon außerordentlich ungeschickt anstellen, um daraus kein politisches Kapital schlagen zu können. Und zugleich würde es seinen eher überschaubaren staatsmännischen Qualitäten nützen, dieser Versuchung zu widerstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen