Nach dem Referendum in der Türkei: Blasse rote Linien in Brüssel
Mit extremen Forderungen beschädigt Erdoğan auch nach dem „Ja“ das Verhältnis zu Europa. Die EU tut so, als sei die Lage unter Kontrolle.
„51 Jahre“, rief der Präsident seinen Anhängern zu, „51 Jahre hat die EU uns vor der Tür stehen lassen. Wenn jetzt kein entscheidendes Signal an uns kommt, sollten wir vielleicht in einem weiteren Referendum darüber entscheiden, ob die Türkei ihr Beitrittsersuchen zurückzieht.“ Noch in der Wahlnacht am Sonntag hatte Erdoğan zum wiederholten Mal seine Bereitschaft erklärt, ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe sofort zu unterzeichnen. Tatsächlich forderte er das Parlament sogar auf, endlich die Beratungen über die Todesstrafe aufzunehmen, das schulde man den bei dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 getöteten Märtyrern.
Die Ankündigung weiterer Referenden sind keine vagen politischen Spielereien. Schon lange fühlt sich Erdoğan von Europa bei den Beitrittsverhandlungen brüskiert; jetzt sieht er eine gute Gelegenheit, mit einem Abbruch innenpolitisch punkten zu können. Zudem scheint es nach dem knappen Ausgang des Referendums vom Sonntag und den Fälschungsvorwürfen aus seiner Sicht notwendig, die eigenen Anhänger weiter auf Trab zu halten. Dafür wäre ein Referendum über den EU-Beitritt ein passendes Instrument, zumal die EU die Verhandlungen wohl sowieso auf Eis legen wird.
Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein – denn einmal bindet Erdoğan damit einen großen Teil des nationalistischen Lagers an sich, zum anderen ist er wohl aus eigener Überzeugung dafür. Immer wieder hat er die Todesstrafe in den vergangenen Monaten ins Gespräch gebracht, für die die Führung seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zunächst wenig Begeisterung zeigte.
„Transparente Untersuchungen“
Jetzt aber wird die AKP sich nicht mehr um das Thema herumdrücken können. Zwar hat sie selbst gemeinsam mit der ultranationalistischen MHP im Parlament nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine entsprechende Verfassungsänderung – doch für drei Fünftel, die ein Referendum beschließen können, würde es reichen.
Am Dienstagabend protestierten in mehreren Städten der Türkei erneut Tausende gegen den Ausgang des Referendums. Die Menschen riefen teilweise "Dieb, Mörder, Erdogan" und warfen der nationalen Wahlkommission (YSK) unter anderem vor, "parteiisch" zu sein. Zivilpolizisten waren anwesend, zu Zusammenstößen kam es zunächst nicht.
Der oberste Wahlbeobachter der OSZE, Michael Link, hat der türkischen Regierung derweil einen Mangel an Kooperationswillen bei der Klärung der Manipulationsvorwürfe vorgeworfen. "Von einer Kooperation kann leider keine Rede sein", sagte Link. Die Verlängerung des Ausnahmezustands und die Äußerungen der Wahlkommission, die bereits jetzt die Manipulationsvorwürfe strikt zurückgewiesen hat, sprächen "eine eindeutige Sprache". Anschuldigungen aus Ankara wies er als "eindeutig politisch motiviert zurück.
Der Europarat erklärte am Dienstag kategorisch, die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei wäre das Aus für deren Mitgliedschaft in der 1949 gegründeten Organisation. Die EU dagegen tut weiter so, als sei die Lage unter Kontrolle. Zwar nannte Margaritis Schinas, Chefsprecher von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Todesstrafe „die dickste aller roten Linien“ für einen Beitritt. Man werde „nicht einmal über die Möglichkeit einer Wiedereinführung diskutieren“. Auf die Frage, ob diese Linie nicht bereits mit der Ankündigung überschritten sei, ging Schinas aber nicht ein. Er ließ auch offen, wie und wann die Gespräche gestoppt werden könnten. Die EU-Regeln sehen vor, dass alle 28 Mitgliedstaaten den Antrag auf Abbruch befürworten müssen. Bisher sprach sich einzig Österreich für einen Stopp aus.
Vage äußerte sich die Kommission auch zu dem Vorwurf der Wahlfälschung. Erforderlich seien „transparente Untersuchungen“, so Junckers Sprecher. Berichte über Unregelmäßigkeiten und der knappe Wahlausgang seien ein Grund, bei allen weiteren Schritten einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens anzustreben.
Ähnlich klang das zuvor schon bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. Angesichts der Spaltung der türkischen Gesellschaft erwarte Berlin, dass Ankara „einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften sucht“, hieß es am Montag in einer gemeinsamen Erklärung mit Außenminister Sigmar Gabriel.
Hoffnungsschimmer in Brüssel
Wenn Erdoğan alle Appelle ungehört verhallen lässt, könnte Brüssel die sogenannten Vorbeitrittshilfen (4,45 Milliarden Euro) kappen. Dafür sprach sich bereits der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), aus. Seitens der Kommission dagegen heißt es bisher, bei den Vorbeitrittshilfen laufe alles nach Plan.
Auch die Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion gehen weiter, als wäre nichts geschehen. Schon im Dezember hatte die Kommission eine „Modernisierung“ des Abkommens vorgeschlagen, das für die türkische Wirtschaft massive Vorteile birgt.
Dieses Angebot stehe unverändert, so Brüssel am Dienstag. Wenn alles gut gehe, könne man auch wieder über die heftig umstrittene Visaliberalisierung sprechen, die Teil des im Jahr 2016 von Merkel eingefädelten Flüchtlingsdeals ist.Allerdings erfüllt die Türkei dafür bis heute nicht alle Bedingungen. Vor allem die drastisch verschärften Anti-Terror-Gesetze erweisen sich als Stolperstein.
Damit aber will sich Ankara nicht abfinden. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte, die Regierung werde nach dem Referendum einen „letzten Vorschlag“ vorlegen. Das wurde in Brüssel als Hoffnungsschimmer gewertet, dass Ankara am Ende doch noch bereit sein könnte, sich zu bewegen. Deshalb sollen die Gespräche weitergehen – zumindest so lange, bis Erdoğan auch hier querschießt.
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