Nach dem Referendum in Katalonien: Madrid und Barcelona rufen „Sieg“
Die Katalonien-Abstimmung am Sonntag wurde überschattet von Polizeigewalt. Am Dienstag soll gestreikt werden.
Irgendwann nach Mitternacht veröffentlichte Jordi Turull, der Sprecher der katalanischen Autonomieregierung „Generalitat“, das Endergebnis. Das Madrider Verfassungsgericht hatte das Referendum im Vorfeld – auf Drängen der spanischen Zentralregierung – als illegal erklärt.
89,3 Prozent beantworteten die Frage, ob sie eine unabhängige Republik Katalonien wollen, mit „Ja“. 7,8 Prozent stimmten mit „Nein“, Der Rest waren leere und ungültige Stimmzettel. Insgesamt hatten sich 42,6 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt. Die Wahl war durch massive Polizeieinsätze und strafrechtliche Verfolgung der Referendumsvorbereitungen seitens der Justiz erschwert worden.
„An diesem Tag der Hoffnung und des Leidens haben Kataloniens Bürger das Recht auf einen unabhängigen Staat in Form einer Republik erworben“, sagte Regionalpräsident Carles Puigdemont am Sonntagabend in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache.
„Blutiger Sonntag“
Die Feierstimmung auf der Plaça de Catalunya war etwas getrübt. Den ganzen Tag über hatte es in Barcelona wie auch in anderen Städten brutale Polizeiübergriffe auf Wahllokale gegeben. Die Krankenhäuser der nordöstlichen Region zählten insgesamt 844 Verletzte, zwei davon schwer.
In den Netzwerken wurde der Sonntag in Anlehnung an die Unterdrückung der nordirischen Bevölkerung durch die britischen Besatzer 1972 „bloody Sunday“ – „blutiger Sonntag“ – getauft. Über Whatsapp, Facebook und Twitter zirkulierten den ganzen Tag Videos, die von übelsten Gewaltrorgien der Nationalpolizei und der Guardia Civil zeugen. Viele der eigens nach Katalonien entsandten Einsatzkräfte knüppelten vor allem auf Frauen – egal welchen Alters – ein.
Kopf und Busen hatten es ihnen dabei besonders angetan. Immer wieder schleppten sie Frauen an den Haaren davon, um die Zugänge zu den Wahllokalen freizumachen und die Urnen zu beschlagnahmen. Eine Frau mit vergipster Hand und vergipstem Unterarm beschuldigte die Polizisten, ihr gezielt einen Finger nach dem anderen gebrochen zu haben. Die Verantwortung für die Gewalt liege „einzig und ausschließlich bei denen, die für den Bruch mit der Legalität und der Koexistenz geworben haben“, erklärte der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy in einer Ansprache vor der Presse und den Kameras des staatlichen Fernsehens. Angesichts der Bilder der Gewalt mutete das fast surrealistisch an.
Solidaritätskundgebungen überall in Spanien
„Heute hat es kein Referendum für eine Selbstbestimmung in Katalonien gegeben“, sagte der Konservative. Er tat das Referendum einmal mehr als eine „Inszenierung“ ab und suchte die Verantwortung für die Gewalt erneut bei denen, die zum Referendum aufgerufen hatten. Dass von den Wählern keine Gewalt ausging, sondern diese in friedlicher und fast schon festlicher Stimmung zu den Urnen gingen, davon wollte er nichts wissen. Er werde „weiterhin hart bleiben und verhältnismäßig.“ Die Journalisten durften keine Nachfragen stellen.
Überall in Spanien gingen am Sonntag Tausende von Menschen spontan auf die Straße, um das Recht auf ein Referendum und damit auf die freie Entscheidung über die Zukunft – nicht nur der Katalanen – zu verteidigen. Außerdem forderten sie den Rücktritt der Regierung Rajoy. In Madrid kamen Tausende auf die Puerta del Sol. Während die katalanischen und die internationalen Tageszeitungen viel von den Polizeieinsätzen sprachen und diese verurteilten, lobte die spanische Hauptstadtpresse „die Enschlossenheit“ Rajoys. Das Referendum werteten sie als „Staatsstreich“ und als „Aufstand“. Allerdings wich die Tageszeitung El País leicht von der harten Linie der vergangenen Woche ab. Im Leitartikel fordert sie zaghaft einen Dialog.
Rajoy will in den kommenden Tagen vor dem Parlament Rede und Antwort stehen und alle Parteien anhören. Ob die Katalanen nach der polizeilichen Gewalt vom Sonntag überhaupt noch von Rajoy gehört werden wollen, wird sich erst zeigen müssen. Puigdemont kündigte an, in den kommenden Tagen das Ergebnis der Abstimmung dem katalanischen Parlament vorzulegen, „damit dieses im Sinne des Gesetzes für ein Referendum verfährt“, erklärte er.
Die EU möge Druck auf Madrid ausüben
Das vom Verfassungsgericht suspendierte Gesetz sieht eine Unabhängigkeitserklärung binnen 48 Stunden nach erfolgreicher Abstimmung vor. Noch ist unklar, ob es wirklich so weit kommen wird.
Die Blicke der Katalanen richten sich vor allem nach Europa. Sie hoffen, dass die Europäische Union endlich Druck auf Madrid ausübt, damit Verhandlungen in Gang kommen. An deren Ende müsste, daran zweifeln nur wenige in Katalonien – egal ob sie für oder gegen die Unabhängigkeit sind – ein Referendum stehen, das wie in Schottland von beiden Seiten gemeinsam ausgerufen wird.
Der Gewerkschaftsbund CCOO rief für Dienstag zu einem Generalstreik in Katalonien auf, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Zudem sollte es am Montag Proteste vor Rathäusern in der Region geben. Mit dem Streik solle „die Gewalt vonseiten der Sicherheitskräfte des Staates, um das Referendum zu stoppen“ verurteilt werden, erklärte CCOO in einer Mitteilung. Auch der Präsident der Organisation Omnium Cultural, Jordi Cuixart, rief für Dienstag dazu auf, die Arbeit niederzulegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist