Nach dem Putschversuch: Die „neue Türkei“ zeigt ihr Gesicht
Bei einem Begräbnis demonstriert Erdoğan seine Macht. Die Nato macht sich Sorgen um die Einsatzfähigkeit der türkischen Armee.
Nachdem der Imam die rituellen Worte gesprochen hat, redet Erdoğan zu seinen Anhängern. Die Stimmung ist aufgeheizt. Die Menge verlangt nach Rache. „Wir wollen Hinrichtungen“, skandiert sie, „wir wollen Hinrichtungen“. Erdoğan nimmt die Slogans auf: „Ja, wir hören auf die Stimme des Volkes. Wir werden die Wiedereinführung der Todesstrafe juristisch prüfen lassen. Wir sind nicht rachsüchtig, aber alle wollen Gerechtigkeit“.
Noch einmal bekräftigt der Staatspräsident seine Auffassung über die Schuldigen für den versuchten Umsturz. „Die terroristische Fethullah-Gülen-Organisation hat den Schritt zum bewaffneten Putsch getan, aber das Volk hat sich ihm in den Weg gestellt. Wir werden sie nicht länger in unserem Land dulden.“
Dann bestätigt Erdoğan, was zuvor schon sein Justizminister Bekir Bozdağ bekannt gegeben hatte. Mitglieder und Sympathisanten der Gülen-Bewegung in der Justiz und im Militär werden nun verfolgt und verhaftet. Rund 6.000 Verdächtige, so Bozdağ am Sonntag, seien bereits festgenommen worden, „aber das ist erst der Anfang“. Erdoğan versichert der Menge, dass sie auch vor den höchsten Institutionen der Justiz nicht Halt machen werden. „Vom Verfassungsgericht bis zum hohen Richterrat werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen“, ruft er der Menge in der Fatih-Moschee zu, „bis hin zu den Metastasen in allen anderen staatlichen Institutionen.“
Die Moscheen dienen der Mobilisierung
Während die Spitze der „Neuen Türkei“ in der Fatih-Moschee versammelt ist, harren andere Anhänger der Regierung auf zentralen Plätzen weiterer Städte aus. Noch eine Woche, hatte Erdoğan gefordert, sollten sie die Plätze des Landes besetzt halten, bis die Gefahr des Putschs endgültig gebannt ist.
Tausende waren in der Nacht zu Sonntag auf dem Taksim-Platz in Istanbul, dem Kızılay- Platz in Ankara und in vielen weiteren Städten versammelt. Auch am Sonntag wurde in allen 85.000 Moscheen des Landes weiterhin zu dieser „Bürgerwache“ aufgerufen. Für die Mobilisierung, so scheint es, sind nicht mehr die Medien zuständig. Wie in alten Zeiten haben die Moscheen diese Rolle wieder übernommen.
Dass Erdoğan nicht zu viel versprochen hat, zeigt sich in den Reihen von Justiz und Militär. Nach 140 Richtern wird derzeit gefahndet, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Bereits am Samstag wurden 2.745 Richter und Staatsanwälte suspendiert, am Sonntag wurden all diesen zusätzlich noch Haftbefehle zugestellt. Sie müssen sich einzeln vor neu ernannten Richtern für ihre angebliche Mitgliedschaft in der „Gülen-Terrororganisation“ verantworten.
Direkt betroffen von der noch am Samstagmorgen begonnenen Verhaftungswelle ist das Militär. Zwei der Chefs der fünf türkischen Armeen wurden verhaftet, Tausende weitere Offiziere festgenommen, nach weiteren Tausenden wird gefahndet.
Nato in Sorge
Fest steht, dass in Justiz und Armee nach diesem Umsturzversuch kein Stein auf dem anderen bleiben wird. „Jetzt passiert, was schon lange hätte passieren müssen“, sagte Erdoğan in der Fatih-Moschee. Das unterstreicht, dass ihm der Putschversuch die Gelegenheit bietet, beide Institutionen endgültig für die „Neue Türkei“ Erdoğans umzubauen.
Den Plan dafür gab es schon zwei Wochen vor dem Putschversuch. Da hatte die AKP im Parlament ein Gesetz durchgebracht, nach dem alle fünf obersten Gerichte aufgelöst, die amtierenden Richter suspendiert und bei jedem Einzelnen geprüft werden soll, ob er sein Amt fortführen kann. Offizielles Ziel des Gesetzes: Anhänger der „terroristischen Gülen-Bewegung“ aus den Justizorganen zu entfernen. Jetzt nimmt die Säuberung der Justiz noch einen weit größeren Umfang an.
Chris Kilford, Ex-MilitärattachÉ
Die Justiz war im Jahr 2000 durch eine Verfassungsänderung ein erstes Mal auf Linie gebracht worden. In der Armee hatten sich aus Sicht von Erdoğan trotz der Säuberungswellen 2007/2008 viele traditionelle Kemalisten halten können, die mit der „Neuen Türkei“ nicht vereinbar sind. In den letzten zwei Jahren gab es Berichte, laut denen die Armee Forderungen von Erdoğan und Davutoğlu, sich stärker im Syrienkrieg zu engagieren, abgelehnt hatte. Wohl auch für diese Widerständigkeit muss sie jetzt bezahlen. Nicht zufällig ist Brigadegeneral Adem Huduti, der das Militär entlang der Grenzen zu Syrien und Irak kommandierte, unter den Festgenommenen.
In der Nato macht sich die Sorge breit, ob die türkische Armee in naher Zukunft noch einsatzbereit ist. Der frühere kanadische Militärattaché in Ankara, Chris Kilford, schrieb: „Egal wie loyal die neu eingesetzte Militärführung gegenüber Erdoğan und der Regierung zu sein scheint, die Beziehungen zwischen Regierung und Armee sind auf immer zerbrochen.“
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