Nach dem Erdbeben in der Türkei: Gemeingefährliche Gebäude-Amnestie
Die türkische Regierungspartei AKP legalisierte Häuser, die ohne Genehmigung gebaut wurden. Auch die Warnungen von Ingenieuren wurden wohl ignoriert.
294.000 Gebäude im türkischen Teil des Erdbebengebiets, die zuvor ohne Genehmigung gebaut wurden, wurden im Rahmen einer Amnestie der regierenden Partei AKP anerkannt – allein im Jahr 2018. Dies war damals die neunte Amnestie, die die AKP in ihrer 20-jährigen Regierungszeit durchführte.
Gegen eine Geldsumme wurden dabei auch mangelhaft gebaute Gebäude für bewohnbar erklärt. Wenn es das Erdbeben nicht gegeben hätte, würde jetzt wohl eine zehnte Amnestie im Parlament diskutiert werden.
Die Sprecherin der türkischen Arbeiterpartei, Sera Kadıgil, klang müde und wütend, als sie am Samstag auf einem Youtube-Kanal sagte: „Sie haben den Menschen Gräber gebaut und sie lebendig begraben.“
Die Verwerfungslinien waren der Politik bekannt
Dass etwa unter der schwer getroffenen Stadt Kahramanmaraş tödliche Verwerfungslinien verlaufen, war bekannt. Vor zwei Jahren erstellte die Kammer der Geologie-Ingenieure der Union der Türkischen Ingenieur- und Architektenkammer einen detaillierten Bericht über die Gefahr unter Kahramanmaraş. Der Bericht wurde an Mitglieder des Parlaments, Ministerien und Präsident Recep Tayyip Erdoğan geschickt.
„Niemand antwortete“, sagte Hüseyin Alan, der Leiter der Kammer, einen Tag nach dem Erdbeben der türkischen Tageszeitung Evrensel Daily. Als die Kammer versuchte, dem AKP-Bürgermeister von Kahramanmaraş, Hayrettin Güngör, zu erklären, dass die Verwerfungslinien in den Bauplänen der Stadt berücksichtigt werden müssten, soll der Bürgermeister geantwortet haben, dass er „nicht an diese Pläne glaube“.
Die Amnestie ist keine Erfindung des AKP-Regimes, sondern ist bereits seit den 1960er Jahren Teil der Wahlversprechen verschiedener Parteien.
Doch nach dem letzten großen Erdbeben von Marmara im Jahr 1999, bei dem 18.000 Menschen starben, gab es den Wunsch nach Veränderung. Im Jahr darauf wurde ein neues Gesetz erlassen, das die Inspektion von Gebäuden vorschreibt. Im Jahr 2012, ein Jahr nach dem Erdbeben in Van, bei dem über 600 Menschen starben, wurde ein ambitioniertes Gesetz verabschiedet. In der Theorie zielte es darauf ab, alle Gebäude, die nicht erdbebensicher waren, zu beseitigen und neue zu bauen. Das Ministerium für Umwelt und Städtebau legte dafür verschiedene Zonen fest, und die Gemeinden erteilten Genehmigungen an Bauunternehmer.
Gewinne über Menschenleben
Doch nahmen sich die Unternehmer nicht immer der gefährdeten Gebäude an, sondern wohl solcher, bei denen sich durch die Baumaßnahmen gute Gewinne erzielen ließen. Die Amnestien lösten dann das Problem der gefährdeten Gebäude.
Der Stadtteil Kadiköy an der Südküste Istanbuls ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Gesetz missbraucht wurde. Es ist ein wohlhabendes Gebiet mit wertvollen Grundstücken, die meisten Gebäude wurden in den 70er und 80er Jahren während des letzten Baubooms errichtet. Obwohl eine Verwerfungslinie unter dem Marmara-Meer verläuft, waren andere Stadtteile Istanbuls wesentlich bedrohter. Aufgrund der hohen Grundstückswerte waren Kadiköy für Bauunternehmer aber sehr attraktiv.
Das Prinzip: Ein Bauunternehmer reißt ein Gebäude ab und baut ein höheres, mit mehr Etagen, und verkauft dann diese Wohnungen. Der Gewinn ist sicher. Die Gebäude sollen jetzt erdbebensicherer sein. Zumindest hoffen das die Bewohner.
Das jüngste Erdbeben hat gezeigt, dass auch viele Gebäude, die in den letzten Jahren gebaut wurden, in sich zusammengefallen sind. Dazu könnte beigetragen haben, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Gebäudeinspektionen privaten Firmen überlassen wurden. Das Gesetz, das die Inspektionen vorschreibt, wurde erst 2019 so verändert, dass diese Aufgabe nun Privaten zufällt. Es besteht der Verdacht, dass auch hier Profit über Sicherheit stand.
Mehr als zwei Drittel der Türkei liegen auf Erdbebengebiet
Der Journalist Bahadır Özgür hat sich die Aktivitäten von Immobilienfirmen in der Provinz Hatay genau angesehen. Öz Burak Construction ist eines der Unternehmen, die er unter die Lupe nahm. Das Motto: „Wir kombinieren die beste Technologie mit dem besten Material und bauen Häuser, in denen man alt werden kann.“
Mindestens zehn Gebäude des Unternehmens liegen – in der Region mit der höchsten Zahl an Todesopfern innerhalb der Türkei – in Trümmern. Sie wurden alle nach 2010 gebaut. In einem Interview rühmt sich der Selfmade-Unternehmer stolz: „Ich habe einen Grundschulabschluss. Ich habe mehr als 1.500 Gebäude gebaut.“
Mehr als zwei Drittel der Türkei liegen auf Erdbebengebiet. Nach Angaben des türkischen Umweltministeriums waren 6,7 Millionen der fast 20 Millionen Gebäude gefährdet.
Aus Angst vor starken Reaktionen macht die AKP nun Jagd auf die Bauunternehmer, die die bei dem Erdbeben eingestürzten Gebäude errichtet haben. Vizepräsident Fuat Oktay gab am Sonntag bekannt, dass „Haftbefehle gegen 131 Verdächtige erlassen wurden, die für die zerstörten Gebäude verantwortlich sein sollen“. Bilder von Geschäftsleuten, die beim Versuch, ins Ausland zu fliehen, an der Grenze erwischt werden, sollen die Bevölkerung beruhigen.
Vor Erdoğans Gesetz sind nicht alle gleich
Dennoch sind in Erdoğans AKP vor dem Gesetz nicht alle gleich. Der Vorsitzende des AKP-Bezirks Dulkadiroğlu in der Provinz Kahramanmaraş, Şahin Avşaroğlu, ist der Eigentümer einer Firma, die ein massives Gebäude gebaut hat, das zusammengestürzt ist. Bislang wurden keine rechtlichen Schritte gegen ihn eingeleitet.
Präsident Erdoğan, der nach dem Marmara-Erdbeben 1999 zu den Ersten gehörte, die den Bauunternehmern und der Regierung die Schuld gaben, hat dieses Mal eine andere Ansicht: „Auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes kann man nicht vorbereitet sein.“ Und wenn er eines versprechen könne, dann dies: „Wir werden innerhalb eines Jahres alles wieder aufbauen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch