Nach dem Anschlag in Tunesien: Nur noch weg
Die Behörden versuchen, Normalität zu suggerieren, Ober warten in Restaurants auf Gäste, doch die reisen ab. Dem Land droht eine existenzielle Krise.
Da die staatlichen Anti-Terrormaßnahmen den blutigsten Anschlag in Tunesiens Geschichte nicht verhindern konnten, greifen die Behörden auf eine andere altbewährte Methode zurück: Man beseitigt schnell die Spuren und geht zum Alltag über.
Im Restaurant des „Imperial Merhaba“ warten die Ober bereits wieder auf Kunden. Doch nach dem kühl ausgeführten halbstündigen blutigen Attentat des jungen Studenten wollen die meisten Gäste nur noch eins: weg.
Deutsche und britische Reiseveranstalter hatten bereits am Freitagabend die ersten Touristen zurück nach Europa geflogen. Chartermaschinen, die bereits auf dem Weg zu tunesischen Flughäfen waren, kehrten nach den ersten Berichten über das Ausmaß des Anschlages noch in der Luft um.
Wirtschaft hat keine Perspektive
Die Tat des 23-jährigen Technikstudenten aus Siliana wird Tunesien wohl in eine existentielle Krise stürzen. Zwar erwirtschaftet das Land mit seinen rund elf Millionen Einwohnern offiziell nur sieben Prozent seines Bruttoinlandproduktes mit Tourismus. Doch viele Experten warnen, dass ein Ausbleiben der Europäer einen dramatischen Rückgang der Deviseneinnahmen und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf bis zu 30 Prozent zur Folge haben könnte.
Schon jetzt gilt die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit als Hauptgrund dafür, dass sich mehr als 4.000 junge Tunesier extremistischen Gruppen wie dem Islamischen Staat oder Ansar Scharia angeschlossen haben.
Die Verkäufer in der Altstadt von Sousse sind am Samstag zu geschockt, um den wenigen Ausländern, die unterwegs sind, etwas zu verkaufen. Vor einem Laden schauen sich einige Männer kopfschüttelnd das Handyvideo eines Augenzeugen des Angriffs an. Das Schreien der fliehenden Touristen treibt dem 56-jährigen Mohamed Said die Tränen ins Gesicht. „Das ist nicht das, wofür Tunesien und der Islam steht.“
Gerade eine neue Chance bekommen
Neben der brutalen Ausführung war wohl auch der Zeitpunkt der Tat kühl berechnet. Gerade hatten sich zahlreiche Reiseveranstalter entschlossen, Tunesien noch eine Chance zu geben, sagt Taufik Gaied, Leiter des Tourismuszentrale auf Djerba. Dort hat der TUI-Konzern gerade einen Robinson Club eröffnet. Die vielen Stammgäste und die Tourismusbranche nahmen sehr wohl wahr, dass sich die Tunesier nach der Jasminrevolution immer wieder gegen den Terror aufgelehnt hatten.
Nach dem Anschlag auf das Nationalmuseum Bardo in der Hauptstadt Tunis im März bekundeten Menschen aus aller Welt mit „I will come to Tunisia“ Solidarität und den Willen, weiter in Tunesien Urlaub machen zu wollen.
Nun sieht ein Hotelbesitzer in Sousse für die kommenden Jahre schwarz. „Die Reiseveranstalter hatten die Preise bereits so weit gesenkt, dass wir viele Angestellte nur wenige Monate im Jahr anstellen können. Nun droht ihren Familien Verarmung durch Arbeitslosigkeit.“
Die Eskalation der angespannten Wirtschaftslage bis hin zu sozialen Unruhen ist das offen erklärte Ziel der Islamisten, die von den Wählern im Frühjahr abgestraft worden waren. Im Oktober 2014 hatte die säkulare Nidaa Tounes die meisten Stimmen erhalten. Seitdem haben sich geschätzt mehr als 4.000 junge Tunesier aus dem veramten Südwesten Milizen in Libyen und Syrien angeschlossen, die nun verstärkt in Tunesien aktiv sind. Auch der Täter von Freitag gehörte offenbar einer solchen Miliz an. Tunesiens kleine und schlecht ausgerüstete Armee wird nach Meinung vieler Experten auch zukünftige Anschläge nicht verhindern können.
In der Innenstadt von Sousse demonstrierten am Freitagabend Tausende Bürger spontan gegen den Terror. Doch die Stimmung bleibt gedämpft. Die 45-jährige Tourismuskauffrau Hiba Said steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben: „Wir müssen uns nun endlich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Tausende junger Tunesier zu Extremisten geworden sind, und nicht mehr nur in Syrien und Libyen, sondern auch in Tunesien kämpfen. Sie sind unsichtbare Gegner.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku