piwik no script img

Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“Beginnt die Pegidisierung Europas?

Frankreich erholt sich nur langsam vom Schock der Morde. Die Angst vor den Islamhassern ist groß. Auch in den Nachbarländern.

Pegidisten in Düsseldorf Bild: dpa

Auch eine Woche nach den Anschlägen läuft das politische Leben im Pariser Regierungsviertel verlangsamt. Die Toten werden begraben, das Land steht noch immer unter Schock. Pathetisch beschwört die französische Regierung den „Geist des 11. Januar“ – als fast zwei Millionen Menschen gemeinsam durch die Hauptstadt zogen, gegen den Terror und für die Meinungsfreiheit.

Vor den Attentaten war der sozialistische Präsident Francois Hollande auf dem besten Weg zur obersten Witzfigur der Republik. Jetzt wachsen seine Sympathiewerte. Sogar die konservative Zeitung Figaro, nicht für Milde gegenüber der Linken bekannt, schreibt anerkennend über ihn. In Umfragen loben fast 80 Prozent der Franzosen das gemeinsame Krisenmanagement von Hollande und seinem Premierminister.

Am Dienstag sangen die Abgeordneten im Parlament gemeinsam die Marseillaise. Einigkeit überall.

Doch wie lange hält der Zusammenhalt über die politischen Lager hinweg?

taz.am wochenende

Allmählich zeigt sich, wie brüchig der Pariser Anschlag Frankreich gemacht hat. „Die Muslime werden dafür teuer bezahlen“, sagt Bestseller-Autor Taher Ben Jelloun in der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 17./18. Januar 2015 Und: „Charlie Hebdo“ spottet weiter: ein weinender Mohammed auf der Titelseite, im Heft Scherze über Dschihadisten. Die Streitfrage „Muss man über Religionen Witze machen?“ Außerdem: Keine Angst vor Hegel. „Viele denken, sie müssten das sorgfältig durchstudieren, wie über eine lange Treppe aufsteigen. Ich finde, man kann auch mittendrin irgendetwas lesen.“ Ein Gespräch mit Ulrich Raulff, dem Leiter des deutschen Literaturarchivs in Marbach. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Nachdem die Abgeordneten die Nationalhymne gesungen hatten, ging es schon wieder um neue Anti-Terror-Gesetze. Über die hätte man auch streiten können. Vor den Anschlägen wirkte nicht nur das politische Paris tief zerklüftet: Immer wieder war es auch zu Unruhen in Pariser Problem-Vierteln gekommen, bei der Europawahl im Mai vergangenen Jahres holte der rechtsextreme Front National 25 Prozent der Stimmen.

„Lange wird das nicht halten“

Es ist jetzt viel die Rede von einem „davor und danach“, einer neuen Zeit, die in der französischen Politik angebrochen sei. Ein hochrangiger Berater der französischen Regierung formuliert es gegenüber der taz.am wochenende vorsichtiger. Man befinde sich in einer Zeit des parteipolitischen „Waffenstillstands“, sagt der junge Ministerialbeamte. Er lobt die „Zurückhaltung und Mäßigung“, macht sich aber keine Illusionen. „Lange wird das nicht halten.“ Man könne nur hoffen, dass auf den Schock eine niveauvolle inhaltliche Debatte folgen werde – und nicht das übliche, von Schuldzuweisungen geprägte, parteipolitische Hickhack.

Für die Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 17./18. Januar 2015 hat eine Team von Autorinnen für die taz.am wochenende versucht, der Stimmung nachzuspüren, die die Anschläge in der zerbrechlichen Republik hinterlassen haben. Sie haben dafür in Paris den besorgten marokkanischen Autor Tahar Ben Jelloun getroffen und in einem Vorort von Nizza die wütende Muslima Fatima Hmamou, die sich in Südfrankreich mit dem Front National konfrontiert sieht.

Mehr als 50 Anschläge gegen Muslime oder ihre Einrichtungen hat das französische Innenministerium in den wenigen Tagen nach den Anschlägen gezählt. Der Fernsehsender iTele nennt für den Zeitraum 7. bis 15. Januar die Zahl von insgesamt 83 islamfeindlichen Taten, darunter 23 direkte Übergriffe und 60 Drohungen, sei es per Brief oder mündlich.

Die Karte unten zeigt eine Auswahl der Angriffe auf Muslime in Frankreich, wie sie von französischen Medien zusammengetragen wurden.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Je weniger sich die anderen Parteien anfeinden, desto leichter kann Marine Le Pen mit ihrem Front National ihre Sonderrolle betonen. Wird der FN von den Anschlägen profitieren? Die Sorge ist groß in Frankreich.

„Ich kann mir da wirklich vieles vorstellen“, räumt der Regierungsberater im Gespräch mit der taz.am wochenende ein. Dass der FN zulegt, stabil bleibt, verliert – alles ist gerade denkbar. Doch faszinierend sei natürlich vor allem die letzte Option. Dass ausgerechnet der Front National an Kraft verliere. „Die Idee der Republik war ziemlich angestaubt“, sagt der Regierungsstratege. „Doch seit der großen Kundgebung am Sonntag wirkt sie mit einem Mal wie frisch poliert. Man erkennt plötzlich wieder, was uns alle zusammenhält – etwa die Laizität und die Brüderlichkeit.“ Er sieht eine Bewegung zurück zu den politischen Wurzeln Frankreichs.

Wie konnten sich die Terroristen aus dem Radar schleichen?

Auch der Hashtag #jesuisahmed lässt den Berater hoffen. Die statistische Realität sei die Integration – das zeige der Fall des getöteten Polizisten Ahmed Merabet, sagt der Beamte. Er hat sich früher selbst intensiv mit der Integrationspolitik befasst. Merabets Tod sei „totaler Zufall“ gewesen. Hätte es aber nur einen einzigen Muslim bei der Pariser Polizei gegeben, dann hätten die Kugeln wohl eher keinen Muslim getroffen.

Spärlich sickern neue Ermittlungsergebnisse oder Details zur Vorgeschichte der Anschläge durch. Wer hat die Coups finanziert, wer das Waffenarsenal beschafft? Die Polizei fahndet – bisher ohne Ergebnis – nach Komplizen. Klar ist: Die Attentäter waren den französischen Sicherheitsbehörden gut bekannt, Said und Chérif Kouachi wurden sogar mehrfach abgehört, über Monate. Angeblich ohne, dass die Ermittler den Gesprächen irgendwelche Hinweise auf Anschlagspläne entnehmen konnten. Die Telefonüberwachung endete französischen Medienberichten zufolge im Sommer 2014. Also wenige Monate vor den Attentaten. Die Terroristen schlichen sich aus dem Radar. Wie konnte das passieren?

Auch Amedy Coulibaly war Terrorfahndern bekannt, erst im März 2014 kam er aus dem Gefängnis frei, zunächst mit elektronischer Fußfessel. Kaum war er die Fußfessel los, brach laut dem französischen Online-Medium Mediapart auch das Interesse der Terrorfahnder an ihm abrupt ab.

Wirklich nicht vermeidbar?

Die Attentäter hätten sich bewusst wie „Schläfer“ verhalten und so „vergessen gemacht“, analysiert der frühere Chef des französischen Inlandsgeheimdienstes, Bernard Squarcini. Er fordert mehr Befugnisse für die Ermittler.

Bei aller Zurückhaltung der vergangenen Tage: Die französischen Sicherheitsbehörden werden sich die Frage gefallen lassen müssen, ob diese Anschläge wirklich kaum vermeidbar waren.

Über ihre Auswirkungen haben die Autorinnen der taz.am wochenende auch mit dem niederländischen Historiker Zihni Özdil gesprochen. Die Niederlande haben mit dem Mord an dem Regisseur Theo von Gogh ihr eigenes nationales Trauma. „Alle Anstrengung, nach dem 11. September Differenziertheit und Verstand in die Debatte über ‘den Islam’, Migration und Identität zu bringen, können wir nach diesem Anschlag in den Mülleimer werfen“, glaubt Özdil. Bitter schließt der bekannte Kolumnist in einem seiner jüngsten Texte deshalb: „Lasst die Pegidisierung Europas beginnen".

Werden die Anschläge der islamkritischen Pegida-Bewegungen tatsächlich helfen, aus Dresden herauszuwachsen? Sind die Islamhasser jetzt auf dem Vormarsch? Oder zeigt die große europäische Einheit in den ersten Tagen nach den Anschlägen nicht gerade das Gegenteil?

Diskutieren Sie mit!

Die Titelgeschichte „Die zerbrechliche Republik“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Januar.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • In den Reihen der Demonstranten ist ein Kurzifix mit Corpus zu sehen. Wurde das wirkich mitgeführt? Jedenfalls sind die Zeiten zum Glück vorbei, in dem die europäischen Staaten ihren Bürgern die Religion vorschrieben. Und selbst wenn "Pegida" ein eurpopaweiter Trend würde, würde das nichts darüber aussagen, was von den Inhalten zu halten wäre. Schließlich war der Hass auf Juden während der NS-Zeit groß. Teilweise wurden die Fl+üchtlinge wegen ihres jüdischen Glaubens in anderen Europas nicht aufgenommen.

  • "Am Umgang mit Glaube und Religion läßt sich der Grad der Zivilisiertheit und Aufgeklärtheit sowie der Charakter der Bekennenden als auch der Kritiker ablesen." Leider kann ich nicht mehr in Erfahrung bringen, von wem dieses Zitat stammt. Kritik wurde, sozusagen als Ur-Linkes Projekt, an Christen- aber auch dem Judentum, fast schon bis zum Erbrechen geübt. Oftmals auch jedes Maß an Charakter und Zivilisiertheit übersteigend. Aber dennoch ist auch solch ein Art der Kritik legitim. So auch im Falle des franz. Magazins mit seinen Karikaturen oder andere Medien bzw. Autoren, Regisseure usw. Jedoch ist diese offene, scharfe Form von Kritik, leider die absoltue Ausnahme. An was liegt das? Sicher auch an der vorherrschenden Unkenntnis über den Islam und die Arabische Welt, die nicht nur aus Islam besteht. Gerade das linke Spektrum sollte es sein, das die islamische Lehre herausfordert. Genau so schonungslos, wie sie das, viele Jahre zurück, anderen auch (erfolgreich!) zugemutet hat. Das führt zu Aufklärung. Auf beiden Seiten. Aber es tut weh. Besonders bei den Mulsimen. Unausweichlich ist es aber allemal. Interessant in diesem Zusammenhang: http://honestlyconcerned.info/2015/01/10/ulrich-w-sahm-warum-die-franzosen-scheiterten/

  • Die EU-Pegisderung ist im Kern eine finalkapitalistische Faschisierung

    Die Geschichte Weimars wiederholt sich zwar nicht identisch, aber ähnlich, solange das kapitalistische Monstersystem noch in seinem zusehends selbst zerstörerischen Finale seine kaputte Grundidentität aufweist.

    Irreversible Massenverarmung durch irreversible Krise, noch verschärft durch die sozialstaatsabbauende Brünisierung der sich selbst bedienenden Machtkartelle EU-weit, mit moslemischem von der Krise ablenkenden Pogromersatzjuden-das

    läuft jetzt als historische Haupttendenz. Ein wenig linke Podemos- und Syriza-Gegenwehr , ein paar scheinbar große Eliten-treuherzige Mittelschicht- Anti-Pegida-Demonstrationen -während die Machteliten für den Krisenernstfall schon das Terroristen-Abknallen üben, als die dereinst linke Krisenabwehrende platt gemacht werden dürfen. Schon wird Pablo Eclesias als Terroristen-Amigo in Spanien verhetzt.

  • Wie Kollege Willi schon schrieb: Pegidisierung verharmlost den Vorgang. Wir haben es seit Jahren mit einer erst schleichenden und nun deutlich an Fahrt zunehmenden Refaschisierung Europas zu tun, welche sich in Staatsapparaten, Politik und Bürgertum manifestiert.

     

    Wann nennt wenigstens die TAZ die Dinge beim Namen, wenn schon die anderen Medien es nicht tun?

     

    Hat man schon vergessen, wie schnell eine Stimmung vollständig kippen kann? Wenn die Katastrophe erst eingetreten ist, kommt der Alarm zu spät.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Pegida ist (auch) das Ergebnis mangelnder Politikalternativen. Die meiste Schuld trifft die SPD, die auch nach dem Agenda2010-Desaster nicht fähig oder willens war, sich personell und programatisch zu erneuern.

    Dieses Streben zur "Mitte", das ständige Gelabbere über Wirtschaftsfreundlichkeit und kein Entgegentreten der zunehemnden Dominanz der Ökonomie über Politik (TTIP, Steuernvermeidung) haben zur Folge, dass irgendwelche dubiosen Gestalten wieder versuchen, das Nationale mit dem Sozialen zu vermischen. Gabriel, Steinmeier, Oppermann sollen spätestens nach der nächsten Bundestagswahl abtreten und ihre ganze Klicke mitnehmen.

  • Parteien von CSU bis SPD müssen aufhören, mit einer Politik prekärer Jobs, schlechter Renten, konzernhöriger Freihandelsabkommen und wachsender Ungleichheit Abstiegsängste zu schüren und so Politfrust zu erzeugen, der von rechten Demagogen aufgegriffen wird.

  • Es "Pegidisierung" Europas zu nennen, ist eine Verharmlosung der Situation. Seit den letzten Europa-Wahlen ist in Europa ein politischer Rechtsdruck zu verzeichnen.

    Das erinnert sehr stark an die Zeit vor dem Aufbrechen der Nazidiktatur in Deutschland. Die scheinheilige Merkel-CDU-CSU, die jetzt vor der Pegida-Bewegung warnt, wird "die Geister, die sie riefen, nun nicht mehr los". Gerade die Innenminister der Union haben doch über Jahre hinweg an diesem gesellschaftlichen Klima gearbeitet. Sie waren es, die die Angst vor 'Armutszuwanderung' geschürt haben, die das Asylrecht ein ums andere Mal verschärft haben, die mit der Regelung vermeintlich sicherer Drittstaaten die Trutzburg Deutschland innerhalb der Festung Europa errichtet haben. Sie waren es, die eine restriktive Zuwanderungspolitik betrieben, die bürokratische Hürden errichteten für Menschen in Not und durch mangelnde Verantwortung maßgeblich zu diesem Klima der Ablehnung beitrugen. Es ist genau diese Politik, die den Boden bereitet hat, für das, was sich nun Woche für Woche in Dresden, Köln und anderen Städten abspielt.

    Bei der rechten Pegida-Bewegung handelt es sich um eine brandgefährliche Mischung aus Abstiegsängsten und Rassismus. Dass sich die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit anstaut, wie soziologische Studien feststellen, dass sie zunimmt und dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt bei ungelösten Problemen wächst, ist nicht überraschend. Dies drückt sich in Politikverdrossenheit, schwindender Wahlbeteiligung oder eben auch in dieser Art von Protesten gegen gesellschaftliche Probleme, die so vor Ort (Dresden) überhaupt nicht anzutreffen sind. Wir haben es hier mit einem gesamtgesellschaftliches Problem zu tun, welches sich nicht auf Dresden reduzieren lässt. Hier bricht etwas auf, was sich über längere Zeit angestaut hat.

    • @Willi:

      Vom ersten bis zum letzten Wort die reine Wahrheit.

       

      Mag sogar eine gewisse Zuwanderungsbeschränkung gerechtfertigt sein - ganz ohne geht´s tatsächlich nicht - aber die angewandten Mittel und vor allem die Feigheit der Politiker, welche erst eine seit 1945 nicht mehr gekannte Fremdenfeindlichkeit auf fruchtbarem Volksboden ausgesät und herangezogen haben, könnten falscher und katastrophaler nicht sein. Unverantwortbare Fehler wurden sehenden Auges begangen, im Vertrauen darauf, daß wie üblich andere die Folgen auszubaden haben.

       

      Die Zukunft Europas wird in den nächsten 10 bis 20 Jahren dank anhaltend "neoliberaler", tatsächlich kapitalfaschistischer Politik so aussehen: Völlige Destabilisierung und/oder Faschisierung.

  • Pegida sagt Islam meint aber Hautfarbe und den Teufel mit dem Belzebub austreiben

    geht schon mal gar nicht.

     

    Eine anti Rassimus und anti Religions-Demonstration würde ich hingegen sehr begrüßen.