Nach dem Abschuss der MH17: Die neue Flugangst
Die Katastrophe über der Ostukraine macht Angst – Flugangst. Drei Zugänge zur Sorge um die Sicherheit in der Luft.
In der Höhe gefangen
Dieter Schiebel, Psychologe, arbeitet seit 30 Jahren als Flugberater. Mit Flugangst kennt er sich aus. Er sagt: „Menschen, die ins Flugzeug steigen, fragen sich oft ’Was, wenn genau meine Maschine abstürzt?‘ Sie verlassen damit die Realitätsebene, denn Fliegen ist immer noch die sicherste Art zu reisen. 2012 starben weltweit 380 Menschen bei einem Flugzeugunglück.
Zwar hat sich die Art der Flugangst nach den jüngsten Flugzeugkatastrophen nicht verändert, aber die Fluggäste steigen nun eher mit Magengrummeln ins Flugzeug. Das wird sich mit der Zeit wieder geben.
Menschen, die zu Flugangst neigen, fühlen sich jetzt bestätigt: ’Fliegen ist wirklich nicht sicher, das habe ich schon immer gewusst.‘ Fliegen ist ein hoch emotionales Thema. Das Hauptphänomen der Flugangst ist das Gefühl des Ausgeliefertseins. Der Gedanke, dass man das Lenkrad abgeben muss, sobald man im Flugzeug sitzt, macht vielen Angst.
’Ich bin in der Höhe, ich kann nicht raus‘ – das verunsichert die Leute. Menschen mit Flugangst sind aber oft vorbelastet: Agoraphobie, also Platzangst, und soziale Ängste gehen einer Flugangst oft voraus.
Keine Frage, dass der Flug MH17 trotz der Auseinandersetzungen über die Ostukraine geleitet wurde, war ein großer Fehler. Die Fluggesellschaften müssen das Risiko, das mit der Wahl der Flugroute zusammenhängt, gut abwägen.“ Protokoll: Elisabeth Bauer
Come fly with me
Abflug: Montag, 11. August, 11.40 Uhr, Frankfurt am Main. Flugdauer: Sechs Stunden und fünf Minuten. Ankunft: Taschkent (Usbekistan), 20.45 Uhr (plus drei Stunden Zeitverschiebung). Entfernung Frankfurt-Taschkent: 5.167 km. Fluggesellschaft: Uzbekistan Airways.
In ein paar Tagen fliege ich nach Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan. Die direkte Luftlinie führt über die Ukraine. Ich weiß allerdings nicht, ob wir wirklich über die Ukraine hinwegfliegen. Und ich will es auch gar nicht wissen. Wozu? Wofür? Mitunter können zu viele Informationen Angst auslösen. Ich habe jedoch keine Lust auf die Angst. Ich hatte einfach schon viel zu viel Angst in meinem Leben. Irgendwann habe ich entschieden, dass mich die Angst schlicht am Arsch lecken kann.
Ich höre auch nicht zu, wenn die freundlichen Flugbegleiterinnen einem vor dem Abflug mit großer Geste erklären, wo die Notausgänge sind und wie man die Sauerstoffmasken zu bedienen hat. Wenn es kracht, dann kracht es. Da hilft einem dann auch kein Notausgang mehr. Man überlebt oder man stirbt. Ich glaube sogar, dass mir dieses Restrisiko, diese statistisch klitzekleine Möglichkeit eines Absturzes, gefällt. Denn ohne Ungewissheit gibt es kein Abenteuer – und ein wenig abenteuerlich darf das Leben schon sein.
Genau aus diesem Grund fliege ich auch gern. Fliegen bedeutet Aufbruch, Unterwegssein, etwas Neues erleben. Darüber hinaus empfinde ich es immer noch als ein kleines Wunder, nach nur – wie in diesem Fall – sechs Stunden in einem mir fremden zentralasiatischen Kulturkreis zu landen. Ich fliege, sehe die Wolken, die Landschaften, die Städte und staune - und sollte in dieses kindliche Staunen eine Rakete einschlagen, na ja, dann habe ich eben Pech gehabt. Cest la vie, wie der Franzose so schön sagt.
Aber bis zum Raketeneinschlag wird gesungen. Auf jedem meiner bisherigen Flüge hat mich dieses eine wunderbare Lied von Frank Sinatra begleitet – und so wird es dieses Mal auch sein, wenn es nach Taschkent geht. Er singt, wir singen: „Weather-wise, its such a lovely day. If you say the word, we will beat those birds back to Acapulco Bay. It is perfect for a flying honeymoon, they say. Come fly with me, lets fly. Pack up, lets fly away.“ Alem Grabovac
Übers Krisengebiet
„Ich kann es ihr ja nicht verbieten“, sagt der Vater, „sie ist alt genug“, die Mutter. 31. August, Flug AZ820, Alitalia, 22.30 Uhr Abflug Rom Fiumicino, 3 Uhr Ankunft in Amman Queen Alia. „Weißt du, worüber ihr fliegt?“, fragt die Mutter. Auf dem Ticket steht darüber nichts. Anruf bei Alitalia, deutscher Kundenservice. Anna geht ran. „"Über Flugrouten haben wir im Callcenter keine Information. Die haben nur die Piloten. Natürlich werden Krisengebiete nicht angeflogen. Mit Alitalia wird Ihnen nichts passieren. Sie können das über Google noch prüfen.“
Google hilft nicht. Bei dem Stichwort „Amman+Flugroute“ will man Flüge verkaufen.
Anruf beim Pressesprecher in Italien. „Jede Route ist anders“, sagt er, „das liegt an Wetterbedingungen und anderen Flugzeugen, die in der Nähe fliegen.“ Alitalia fliegt Israel bis Ende Juli nicht an – aber nach Jordanien darüber hinweg. „Wir fliegen nur über sichere Gebiete. Es ist nicht unsere Entscheidung, welche Route wir nehmen. Die europäische Flugsicherung, genannt Eurocontrol, entscheidet das.“ Der Flieger könnte über Nordisrael fliegen. „Eurocontrol sagt uns, dass dort die Route sicher ist, und dann nehmen wir die.“
Angenommen man weiß, jemand wird mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit einen Mord begehen. Was macht man da? Ihn mit einer Drohne überwachen? Ein Gespräch mit den Science-Fiction-Autoren Marc Elsberg und Tom Hillenbrand über eine Zukunft, die wir immer besser kennen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 2./3. August 2014. Außerdem: Hoyerswerda hat wieder ein Asylbewerberheim. Kann die Stadt ihre Vergangenheit überwinden? Und: Helmut Höge über Waschbären. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Anruf beim Pressesprecher von Eurocontrol. „Die Information ist inkorrekt. Wir legen nicht fest, ob Routen sicher sind. Das machen die Staaten selbst. Wir überprüfen nur die Flugpläne, ob sie sich daran halten oder gegen die Vorgaben verstoßen.“
Israel liege aber gar nicht mehr im Zuständigkeitsbereich. „Ich kann Ihnen nicht verlässlich sagen, ob der Flughafen in Tel Aviv freigegeben ist oder Routen über Israel gesperrt sind – das können nur israelische Autoritäten.“
Anruf beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Welche Lufträume hat Israel gesperrt? „Israel hat den Luftraum nicht gesperrt“, antwortet die Pressesprecherin.
Ist der Luftraum nicht geschlossen, gibt es Empfehlungen. Also entscheidet doch die Airline, der Pilot, wie und worüber geflogen wird.
Ein Kollege schickt einen Link: Flightradar24.com. Auf der Seite kann man Flüge in Echtzeit verfolgen und bis zu fünf Tage deren Flugrouten abrufen. Ein Flug mit Flugnummer AZ820 ging am Dienstag von Rom nach Amman. Die Maschine flog nicht über den Gazastreifen. Aber über Israel: über Yakum im Norden, 20 Kilometer von Tel Aviv entfernt in einer Höhe von 6.256 Metern. Und sie flog über das Westjordanland, über Tsufin in 5.928 Metern Höhe. MH17 flog immerhin 10.688 Meter hoch über der Ostukraine, knapp über der Empfehlung von Eurocontrol – und wurde von einer Rakete getroffen.
Auf der Seite vom israelischen Militär ist eine Karte, darauf eine Rakete, platziert im Gazastreifen. M302. Um sie herum ein roter Kreis, Reichweite: 160 Kilometer. Yakum liegt darin. Und Tsufin. Beides Orte, über die AZ820 am Dienstag geflogen ist. Julia Neumann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Neue EU-Kommission
Es ist ein Skandal
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative