Nach blutigen Protesten in Kasachstan: Amnestie für rund 1.500 Gefangene
Im Januar nahm Kasachstan massenhaft Protestierende fest. Jetzt kommen viele wieder frei. Doch Menschenrechtsgruppen kritisieren die Massenamnestie.
Das Gesetz sieht vor, dass die Anklagen bei Personen fallengelassen werden, die minder schwere Vergehen begangen haben, und sie freikommen. Wer wegen schwerer Verbrechen einsitzt, kann mit einer Reduzierung des Strafmaßes um die Hälfte oder sogar um zwei Drittel rechnen.
Ausgenommen von der Regelung sind Häftlinge, die des Terrorismus, Extremismus, Hochverrats, der Korruption und Organisation von Massenunruhen für schuldig befunden wurden. Präsident Kassym-Schomart Tokajew hatte entsprechende Pläne am 1. September angekündigt und muss das Gesetz noch unterzeichnen.
Im vergangenen Januar erschütterten schwere Unruhen das zentralasiatische Land mit knapp 19 Millionen Einwohner*innen. Diese hatten sich zunächst an drastischen Preiserhöhungen für Benzin entzündet, sich dann aber auch gegen den damals immer noch mächtigen korrupten Ex-Präsidenten Nursultan Nazerbajew nebst Familienclan gerichtet und im ganzen Land ausgebreitet.
Beweise vorgelegt
Um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen, bat Tokajew um Entsendung von Truppen des von Russland geführten Militärbündnisses „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ (OVKS). Die, teils brutale, Niederschlagung der Proteste – es durfte ohne Vorwarnung auf Demonstrierende geschossen werden – kostete offiziellen Angaben zufolge mindestens 238 Menschen das Leben, rund 1.000 wurden verhaftet. Tokajew hatte damals die Erzählung aufgetischt, die Unruhen seien von 20.000 „Terroristen“ aus dem Ausland angezettelt worden.
Nach wie vor sind viele Fragen zum tatsächlichen Hergang der Ereignisse offen. Menschenrechtsgruppen haben mehrfach Beweise vorgelegt, wonach auch auf Personen geschossen worden sei, die nichts mit den Protesten zu tun gehabt hätten. Sie fordern seit Monaten umfangreiche Ermittlungen und kritisieren die Massenamnestie. Denn unter die fallen auch Strafverfolgungsbeamte und Militärs, die sich so ihrer Verantwortung entziehen können.
Tokajews vorgeblicher „menschenfreundlicher Akt“ könnte auch mit der vorgezogenen Präsidentenwahl zu tun haben, die für den 20. November angesetzt ist. Aus der Abstimmung dürfte das amtierende Staatsoberhaupt, seit 2019 im Amt, als sicherer Sieger hervorgehen. Einige Kandidaten wurden nicht zugelassen, eine Handvoll Mitbewerberinnen sind reine Staffage.
Im vergangenen Juni hatte sich Tokajew per Referendum weitreichende Verfassungsänderungen absegnen lassen. Diese sollen helfen, einen politischen Reformprozess einzuleiten. Dazu gehört auch, dass der Präsident nicht mehr höchstens zweimal für fünf, sondern nur noch einmal für sieben Jahre gewählt werden darf. Da Tokajews erste Jahre nicht mitgezählt werden, könnte er im Falle eines Sieges noch bis 2029 an der Macht bleiben.
Zentraler Partner der EU
Pünktlich zum Senatsvotum über die Amnestie empfing Tokajew im Rahmen eines EU-Zentralasienstreffens mit den Staatschefs von Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan auch den Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel. Der bezeichnete Kasachstan am vergangenen Donnerstag bei einer Pressekonferenz in der Hauptstadt Astana als zentralen Partner der EU sowie als wichtigen Spieler auf der internationalen Bühne und in der Region.
„Zentralasien und die EU kommen sich näher und verbinden sich immer stärker. Die EU unterstützt Versuche, die Demokratie zu stärken. Respekt vor Menschenrechten und fundamentalen Freiheiten sind wichtige Elemente einer Zusammenarbeit“, sagte er. An die Adresse Kasachstans gerichtet unterstrich auch Michel „die Bedeutung einer vollständigen, fairen und transparenten Untersuchung der beispiellosen regierungsfeindlichen Proteste“.
Ob die kommt, ist fraglich. Dafür steht jedoch bereits das nächste Treffen fest: Für den kommenden Monat ist eine EU-Zentralasienkonferenz in Usbekistan geplant.
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