Nach Massenprotesten in Chile: Piñera rudert zurück
Nach den Großdemonstrationen entlässt Chiles Präsident Piñera sein Kabinett. Die Ausgangssperre ist aufgehoben, der Ausnahmezustand könnte folgen.
„Wir sind in einer neuen Wirklichkeit“, sagte Piñera in einer Ansprache im Präsidentenpalast La Moneda in Santiago de Chile. „Chile ist nun anders als das Chile, das wir vor einer Woche hatten.“ Er wolle „eine neue Regierung bilden, um damit die neuen Herausforderungen bewältigen zu können“.
Am Freitag hatte es in der Hauptstadt Santiago und mehreren anderen Städten Massenproteste mit mehr als einer Million Teilnehmern gegeben. Es war war eine der größten Demonstrationen, die es je in Chile gegeben hatte. Piñera erklärte im Online-Dienst Twitter, er habe die Botschaft der Massenproteste verstanden.
Die Proteste waren eine Woche zuvor durch gestiegene U-Bahn-Preise ausgelöst worden. Piñeras Regierung nahm die Preiserhöhung zwar rasch zurück und kündigte Sozialreformen an, unter anderem eine Erhöhung der Mindestrente und des Mindestlohns. Ein Ende der Demonstrationen konnte der Milliardär damit aber nicht erreichen. Innerhalb kurzer Zeit weiteten sie sich zu Massenprotesten gegen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Land insgesamt aus.
Kabinett schon zweimal umgebildet
Die Proteste, bei denen es auch zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei, zu Ausschreitungen und Plünderungen mit 19 Toten und mehr als 580 Verletzten kam, richten sich gegen die wirtschaftliche Benachteiligung weiter Bevölkerungskreise und das ultraliberale Wirtschaftsmodell, das in der Diktatur unter General Augusto Pinochet (1973-1990) entwickelt und seit der Rückkehr Chiles zur Demokratie kaum infrage gestellt wurde.
Die Demonstranten, die am Freitag durch die Hauptstadt zogen, forderten Piñeras Rücktritt und grundlegende Wirtschaftsreformen. Sie schwenkten chilenische Flaggen und sangen Widerstandslieder aus Zeiten der Pinochet-Diktatur. Als die Demonstranten am Präsidentenpalast vorbeizogen, riefen sie Parolen gegen Piñera und das Militär.
Piñera, der Chile schon von 2010 bis 2014 regiert hatte und seit März 2018 wieder im Amt ist, steht wegen der abflauenden Konjunktur und Kritik an seinem Führungsstil schon länger unter Druck. Er hat schon zweimal sein Kabinett umgebildet. Besonders umstritten war der bisherige Innenminister, Piñeras Cousin Andrés Chadwick.
Am Samstag stellte Piñera in Aussicht, den in Santiago und weiteren Regionen Chiles geltenden Ausnahmezustand am Sonntag aufzuheben – wenn die Umstände dies erlaubten. Damit solle „jene Normalisierung unterstützt werden, welche die Chilenen so sehr wünschen und verdienen“, sagte Piñera. Das Militär teilte mit, dass die nächtliche Ausgangssperre in Santiago de Chile bereits am Samstagabend aufgehoben worden sei.
Am Samstag gab es in Santiago de Chile und in anderen Städten nur vereinzelt Demonstrationen. Es blieb weitgehend friedlich. Nur vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt setzte die Polizei Wasserwerfer gegen rund hundert Demonstranten ein. Auch die Militärpräsenz war sichtbar reduziert.
Fünf von sieben U-Bahn-Linien in der Hauptstadt waren wieder in Betrieb, auch fast alle Busse fuhren wieder. Geschäfte hatten wieder geöffnet. Tausend freiwillige Helfer waren im Einsatz, um nach den Protesten die Straßen zu säubern und Protestgraffiti wie „Chile ist aufgewacht“ oder „Piñera, tritt zurück“ von Wänden abzuschrubben.
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