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Nach Corona ist vor CoronaTräum weiter, Baby

Die Freiheit scheitert nicht, weil man sich der medizinischen Faktenlage entsprechend verhält. Sondern an und in einem selbst.

Die kurze Phase der Einkehr, des diskursiven Leiserwerdens ist vorbei Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

D ieser Moment, kurz bevor man aufwacht nach einem echt guten Traum. Halb weiß man schon, dass es nur ein Synapsenfeuerwerk war, halb zerfällt schon die Erinnerung daran. Dann macht man die Augen auf, und alles ist weg.

Ein bisschen so ist es gerade mit all den Träumen von der schönen neuen Post-Corona-Welt: Weniger konsumieren wollten wir (weil: ging ja selbst ohne Klopapier ganz gut), weniger reisen (aber bitte jetzt auch nicht immer nur an die Ostsee, brrr …), besser, weil von zu Haus aus, arbeiten, besser lieben, weil durchs Homeoffice mehr Zeit dafür (eine der schönsten Paradoxien des Lebens: Lust kommt mit Langeweile).

Wie am Beginn einer neuen Liebe also oder wie im Traum waren in der Pandemie erst mal alle Türen der Wahrnehmung weit offen. Eine neue Welt, ohne Flugzeuge, ohne Autos, mit mehr Muße, schien endlich möglich. Break on through, to the other side. Wenn es keinerlei Erfahrung gibt, auf die man bei einem neuen Lieblingsmenschen oder in dieser neuen Situation zurückgreifen kann, ist erst mal alles möglich. Also auch das Beste, Schönste, Wahrste.

Aber natürlich auch das Schlimmste, Gemeinste, Grässlichste. Das ist der Moment, wo aus der schönen Freiheit erst wieder Angst und Abschottung, Selbstschutz und in der Folge dann dumpfer Alltag wird. Weil gegen das Schlimme muss man sich – bei aller Liebe zur Freiheit – natürlich wappnen, das darf nicht eintreten. Als ob uns das Leben als einziger Opiumrausch versprochen worden sei, schmerz- und ungemachfrei. Und wumms, schon sind die Türen wieder zu.

Klar: auch die ganze Pandemiebekämpfung ist ein einziger Versuch, das Schlimmste zu verhindern. Aber eben nicht gesellschaftlich-emotional-theoretisch, sondern physisch-reell. Macht das also was mit der Freiheit? Ich würde sagen: Nein. Beim Versuch, die Bevölkerung nicht sterben zu lassen, mag der Einzelne sich eingeschränkt fühlen, am Ende geht es dabei aber um die Freiheit aller, unversehrt weiterzuleben.

Die eigentliche Freiheit scheitert nicht, weil man sich der medizinischen Faktenlage entsprechend verhält. Sondern an und in einem selbst, im Angesicht der Fülle von Möglichkeiten, die sich ergibt, wenn das Gewohnte zusammenbricht. Das ist Chaos, Überforderung, dann kehrt man halt lieber zurück zum alten Trott.

Der Wunsch nach Kontrolle ist ja auch, wie neulich die Psychologin Pia Lamberty im Radio erzählt hat, ein Motiv für Verschwörungsglaube. Tatsächlich sind Leute mit prekären Arbeitsverhältnissen, Menschen in Teilzeit oder Kurzarbeit, anfälliger für Irrglauben als Leute mit mehr Sicherheiten. Ein Grund mehr, endlich Arbeit neu zu denken, ihren Wert für den Selbstwert zu hinterfragen und vor allem über ein bedingungsloses Grundeinkommen zu diskutieren. Oder einfach die Leute angemessen zu bezahlen.

Aber sosehr ich mir mehr finanzielle Sicherheit für alle wünsche, so sehr wünsche ich mir – wenn wir heute schon beim Träumen sind – weniger Fixierung auf Sicherheit in allen anderen Bereichen. Sicher ist nix, das ganze Leben ein einziges Risiko, und wie jämmerlich das Ganze am Ziel vorbeischlittern kann, sieht man an den Impfskeptikern. Aus Angst vor sehr, sehr unwahrscheinlichen Komplikationen gehen sie lieber den sicheren Weg des Nichtstuns. Bis sie intubiert auf der Bahre liegen. Denselben Preis gibt’s übrigens auch für die Freiheitsfanatiker, die aufrechten Kämpfer für ihre Bürgerrechte, die auch in der Pandemie nicht darauf verzichten wollen, oben ohne (Maske) zu gehen. Ob Freiheit oder Sicherheit, am Ende gibt’s immer den Tod.

Deshalb wär’s so schön, es würden sich weniger Menschen, egal aus welcher ideologischen Richtung sie sich dem Unausweichlichen nähern, weniger fürchten und weniger aufregen.

Das aber widerspricht wohl dem menschlichen und – laut Pia Lamberty aber vor allem männlichen – Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Rausstechen aus der Masse geht am leichtesten mit steilen Thesen und kruden Ansichten. Auch deshalb sind Männer angeblich anfälliger für Verschwörungsmythen und Ideologien aller Art. Je weniger Menschen der eigenen, abseitigen Theorie logisch noch folgen können, desto schlauer kann man sich fühlen.

Kurz: ich bin enttäuscht. Die kurze Phase der Einkehr, des diskursiven Leiserwerdens, ist vorbei. Vorbei die Zeit, sich aus der Distanz des Homeoffice heraus die größeren Fragen anzugucken

Kurz: ich bin enttäuscht. Die kurze Phase der Einkehr, des diskursiven Leiserwerdens ist vorbei. Vorbei die Zeit, sich aus der Distanz des Homeoffice heraus die größeren Fragen anzugucken. Längst ist wieder Halligalli angesagt. Die Pandemie ist zwar alles andere als vorbei, trotzdem wird wieder über jeden Tweet und jedes metaphysische Magengrummeln diskutiert – und bei Bedarf in alter, hitziger Gewohnheit eskaliert.

Nichts hat sich geändert, es macht mich so müde. Ich denke, es ist Zeit für ein Schläfchen, ein kurzer Nap, um wenigstens in meinem Kopf ein paar Türen zu öffnen.

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Ariane Lemme
Redakteurin
schreibt vor allem zu den Themen Nahost, Antisemitismus, Gesellschaft und Soziales
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4 Kommentare

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  • Ja, vielen Dank für die Bestätigung meiner Vermutung: Meine Frau und ich haben 3 Kinder wochenlang zu Hause betreut und beschult, haben selbst kein Home Office gemacht und sind in vielen Situationen schier verzweifelt. Da hören wir von so Home-Office-Urlaubern, dass das ganze doch eigentlich Super ist. Endlich Entschleunigung, nix verpassen und mal drüber nachdenken was man alles so überflüssiges früher gemacht hat. Das Wetter war auch herrlich und die Hautbräune hat auch im heimischen Büro auf wundersame Weise zugelegt. Wozu haben wir auch Kinder bekommen, wenn wir jetzt so rumjammern! Wenn die Bevölkerung auch von dem Virus dahingerafft wird, kann man ja wohl mal zu Hause bleiben. Wer so eine Angststörung hat, für den ist das ein perfekter sekundärer Krankheitsgewinn. Nehmen Sie doch mal zur Kenntnis, dass die Maßnahmen weit über einfache Solidarität hinausgingen. Die Maßnahmen haben selbst Leid erzeugt und tun es noch. Da ging es meiner Familie und mir ja vergleichsweise gut. Überfüllte Frauenhäuser, misshandelte Kinder, überforderte Alleinerziehende und viele Minderheiten mehr haben keine Lobby. Ich habe mal verstanden: Grundrechte gelten zuerst für Minderheiten.



    Aber vielleicht geht es ja doch frei nach Gerhard Polts bissiger Satire ("Wir brauchen keine Opposition, weil wir sind eh schon Demokraten") : Wir brauchen keine Grundrechte/Freiheit, weil wir sind ja eh solidarisch!

    • @BS!:

      Was für ein Leid hat das Virus wohl bei denen erzeugt, die geliebte Menschen verloren haben? Und wäre es wirklich zu verantworten gewesen, dieses Leid zigtausend anderen Menschen zuzufügen, nur damit Sie nicht Zeit mit Ihren Kinder verbringen müssen und eine vernünftige Bräune bekommen können? Wie viele Menschenleben würden Sie denn persönlich dafür opfern? Ihre Kinder müssen ja fürchterlich sein, wenn Sie glauben, dass Menschen mit einem tödlichen Virus besser dran sind.

      • @Davian:

        Ich habe aufrichtiges Mitleid mit denen, die Angehörige verloren haben oder selbst unter der Krankheit Covid-19 gelitten haben.



        Oft stellen wir uns in der Familie die Frage: Was, wenn uns durch das Virus ein Schicksalsschlag ereilen würde? Diese Frage könnten wir abschließend wohl erst beantworten, wenn es passieren würde. Wir kommen für uns aber immer wieder zu dem Ergebnis unserer eigenen Risikobewertung, dass die Maßnahmen unverhältnismäßig waren und sind. Meine Eltern und Schwiegereltern (alle über 70) haben diese Frage für sich selbst beantwortet. Sie wollten in der Zeit, die Ihnen bleibt, lieber ihre Enkel sehen, als einsam zu Hause zu sitzen. Für unsere Kinder entscheiden wir, leider gibt es da aktuell wenig Spielraum. Für mich persönlich kann ich sagen, dass die Totenzahlen in Zusammenhang mit Covid-19 mich nicht mehr schrecken, als solche mit anderem Zusammenhang. Ich traue der Erkrankung an dem Virus bei Weitem nicht die vom Innenministerium prognostizierten Toten zu.



        In Deutschland pumpt die Regierung Geld in die Wirtschaft und Bevölkerung, weil sie es kann. Bei der Mehrheit scheinen sich die Folgen deshalb auf einfachen Verzicht und Masketragen zu beschränken. Für eine Minderheit gilt das nicht. Wieviel Leid möchten Sie denn zulassen, um weitere Infektionen zu vermeiden? Wieviel Gewalt in Familien darf es denn sein? Wie viele Existenzen sollen denn zerstört werden mit allen Folgen? Global sieht das anders aus. Die Folgen der Maßnahmen (nicht der Pandemie) können Sie im Einzelnen in den Medien mitverfolgen, wenn Sie die Augen aufmachen.



        Um Ihr Frage zu meinen Kindern zu beantworten, falls es Sie wirklich interessiert: Nein, sie sind nicht fürcherlich, im Gegenteil. Aber wir waren mit der Situation mehr als überfordert.



        Und zur Frage der Hautbräune: Ich gönne jedem seinen Teint, in jeder Ausprägung.

  • Danke. Nicht enttäuscht sein: das Ganze ist mühsame Kleinarbeit, aber vielleicht kommen wir bei dieser Gelegenheit ein Stückchen voran.

    "Die eigentliche Freiheit scheitert nicht, weil man sich der medizinischen Faktenlage entsprechend verhält"

    Sehr richtig. Diejenigen, die jetzt am lautesten krakeelen merken gar nicht, wie sehr unsere "Freiheit" durch das Zusammenleben in einer Gemeinschaft ohnehin eingeschränkt ist. Ich darf auch nicht meine brennende Matratze vom 4. Stock auf die Strasse werfen, bloss weil mich der Verkehrslärm da unten nervt. Mensch tut viele Dinge dem halbwegs erträglichen Funktionieren von Gemeinschaft zuliebe.

    Maske, sonstiges vorsichtiges Verhalten als Einschränkung von Freiheit zu verstehen ist in meinen Augen lediglich infantiles Verhalten.

    Bleiben wir dran.