Nach Beginn des Waffenstillstands: Experten halten Hamas in Gaza für geschwächt
Polizisten der Miliz patrouillieren wieder in den Straßen von Gaza, Bilder zeigen Paraden von Kämpfern. Warum Fachleute sie dennoch für angeschlagen halten.
Die Botschaft: Die Hamas sitzt in Gaza fest im Sattel, die Bevölkerung unterstützt sie. Ein Sieg Israels sieht anders aus. Wenig später geht ein Foto viral, das denselben Ort, den Saraia-Platz in Gaza-Stadt, aus der Vogelperspektive zeigt: Die Massen entpuppen sich als einige hundert Menschen.
Solche Bilder sind mitunter schwer zu überprüfen. Ähnliches gilt für die Aufnahmen von Paraden schwer bewaffneter Hamas-Kämpfer auf blitzblanken Pick-ups oder Hamas-Polizisten, die auf der Straße in Khan Jounis ihre Rückkehr in den Dienst verkünden. Doch sie alle werfen Fragen auf: Wie stark ist die Hamas noch? Wie viel Rückhalt genießt sie? Was bedeutet das für die Zukunft der Waffenruhe?
„Lasst euch nicht beeindrucken“, schreibt der israelische Journalist Haviv Rettig Gur beim Onlinedienst X. Die Bilder „waren an die Gaza-Bewohner gerichtet als Machtdemonstration und um jeden Gedanken an eine Revolte zu verhindern“. Die Hamas könne heute keinen Angriff in den Dimensionen des 7. Oktobers ausführen.
„Kriege ohne Ziel können kaum gewonnen werden“
An der tatsächlichen Stärke der Hamas zweifelt auch Miri Eisin, früher israelische Geheimdienstmitarbeiterin und heute Forscherin am International Institute for Counter-Terrorism bei Tel Aviv. „Die Kämpfer in Uniformen und mit Sturmhauben wirken bedrohlich“, sagt sie. „Es bedeutet aber nicht, dass sie noch immer über die Fähigkeiten, die Waffen oder die Führungsstruktur verfügen, um einen erneuten Angriff auf Israel zu starten.“
Israels Außenminister Gideon Saar
Und das, obwohl die Hamas laut der US-Regierung unter der ausgebombten und geschundenen Zivilbevölkerung in Gaza fast so viele neue Kämpfer rekrutiert haben soll, wie sie im Krieg verloren hat. Eine militärische Zerstörung der Gruppe, wie von der Regierung oft gefordert, hält Eisin für nicht realistisch.
Der Kritik an der israelischen Führung schließt sich auch Seth Frantzman an: „Kriege ohne Ziel können kaum gewonnen werden“, sagt der Buchautor und Analyst. Doch die Frage nach dem „Tag danach“ sei von der israelischen Regierung nie beantwortet worden. Die Armee habe stattdessen wie in früheren Kriegen 2009 und 2014 agiert: „Sie haben die Hamas geschwächt, aber nicht vertrieben.“
Dabei hätte die Gruppe nach ihrem Überfall am 7. Oktober durchaus militärisch verdrängt werden können, glaubt Frantzman. Als Beispiel nennt er die Rückeroberung Mossuls vom IS zwischen 2016 und 2017. „Die Armee hätte Zivilisten Zugang zu Flüchtlingslagern außerhalb der Kontrolle der Hamas ermöglichen müssen, stattdessen hat Israel keine Verantwortung für die Vertriebenen übernommen.“
Könnte die Palästinensische Autonomiebehörde Gaza regieren?
Eroberte Stadtviertel seien bewusst einem Machtvakuum überlassen worden, in das die Hamas zurückkehren konnte. Stattdessen hätte eine Übernahme durch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit Unterstützung aus der Region erfolgen müssen, sagt Frantzman. „Das wäre keineswegs problemlos verlaufen, aber es wäre machbar gewesen.“
Ein weiteres Problem an diesem Plan: Eine PA-Regierung lehnt auch die Mehrheit der Palästinenser ab. Vermehrte Razzien durch PA-Polizisten gegen bewaffnete Gruppen im Westjordanland, unter anderem in Jenin, mögen ihre Position im Westen stärken, sie verspielen aber auch lokalen Rückhalt.
„Es gibt keine Gewinner“, deutet Samer Sinijlawi die Bilder aus Gaza beim Onlinedienst X. Weder Israel noch die Hamas könnten von einem Sieg sprechen: „Die Machtdemonstration ist bedeutungslos für die Millionen Gazaer“, schreibt der Vorsitzender des Jerusalem Development Fund. „Militärparaden werden nicht einen Stein wieder auf den anderen setzen.“
Für den Hamas-nahen Analysten Ibrahim Madhoun ist die Botschaft aus Gaza indes klar: „Die Hamas ist der ‚Tag danach‘ für Gaza“, sagte er. Für jede künftige Einigung zu Gaza sei sie „unumgänglich.“ Noch am Sonntag hatte das von der Hamas geleitete Medienbüro erklärt, dass Tausende Polizisten im Gazastreifen eingesetzt würden, um „Sicherheit und Ordnung“ zu bewahren.
Siedlerüberfälle im Westjordanland nehmen zu
Kommt die fragile Waffenruhe nicht über ihre erste sechswöchige Phase hinaus, könnte ein „Tag danach“ im Gazastreifen bald wieder in weite Ferne rücken. Außenminister Gideon Saar sagte am Sonntag, Israel habe keinem dauerhaften Waffenstillstand zugestimmt, der die Hamas an der Macht lasse.
Nun sind auch die weiteren Schritte des alten neuen US-Präsidenten Donald Trump entscheidend. Für die Palästinenser verliefen diese bisher wenig vielversprechend: An seinem ersten Tag im Amt beendete er etwa Sanktionen gegen extremistische Siedler im Westjordanland. Das könnte die Lage dort weiter verschlechtern, wo Siedlerüberfälle auf Palästinenser mittlerweile an der Tagesordnung sind – so auch in der Nacht zum Dienstag.
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