NSU-Serie Teil 5: Die Rolle der Bundesanwaltschaft
War der NSU ein größeres Netzwerk? Weiterhin sieht die Bundesanwaltschaft dafür keine Belege. Dabei gibt es eine Vielzahl an Hinweisen.
Ungeklärte Fragen räumte Greger indes ein, auch offene DNA-Spuren. „Damit müssen wir leben.“ Das war der Punkt, an dem es dem Ausschussvorsitzenden Clemens Binninger, CDU-Mann und Expolizist, reichte. „Uns wäre es lieber, wenn Sie mit den offenen Spuren nicht leben würden. Sondern wenn Sie diese ermitteln würden.“
Es ist der hartnäckigste Vorwurf an die Bundesanwaltschaft, der in diesem Moment wieder im Raum stand – und der schwerste: Tut sie wirklich genug, um die Rechtsterror-Serie aufzuklären? Oder hat sie sich bereits festgelegt – schon wieder?
Auch für die Bundesanwaltschaft war die NSU-Mordserie ein Fiasko. „Unser 11. September“, nannte sie der einstige Generalbundesanwalt Harald Range einmal. Über Jahre hinweg wurden neun migrantische Gewerbeleute erschossen, am Ende auch eine Polizistin, in Köln gingen zwei Bomben hoch – die Behörde aber sah sich nicht zuständig, vermochte keinen Terror zu erkennen.
Erst als mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das NSU-Bekennervideo und die Tatwaffen auftauchten, lag für die Bundesanwaltschaft alles auf dem Tisch. Und die Behörde machte fünf Schuldige aus: Beate Zschäpe und vier Helfer. Sie alle sitzen seit Mai 2013 in München vor Gericht.
War das wirklich alles?
Aber: War das wirklich alles? Es gibt Zweifel. „Ich habe die Befürchtung, dass man sich wieder zu früh festgelegt hat“, sagt der Ausschussvorsitzende Binninger. „Vor dem NSU-Bekanntwerden waren die Ermittler überzeugt, dass die Täter aus dem Umfeld der Opfer kamen. Das war falsch. Heute sollen alle NSU-Taten nur von Böhnhardt und Mundlos verübt worden sein.“ Alle Hinweise aber, die dem Ausschuss vorlägen, sprächen dagegen, so Binninger. „Deshalb glaube ich, dass es mehr als zwei Täter waren.“
Binninger ist mit seiner Kritik nicht allein. Auch im Münchner NSU-Prozess attackierten Anwälte der Opferfamilien die Bundesanwaltschaft früh: Diese habe die Aufklärung „als lästig hinten angestellt“. Akteneinsichten würden verweigert, Verfassungsschützer nicht geladen. Alles, was das Netzwerk des NSU und die Rolle des Geheimdienstes beleuchten soll, werde „scheuklappenartig blockiert“. Die Bundesanwälte verteidigten sich stets: Der NSU-Prozess dürfe nicht ausufern. Nur um die dort Angeklagten müsse es gehen. Die Frage ist dann aber: Wie viel tut die Bundesanwaltschaft außerhalb des Prozesses für die Aufklärung des Netzwerks um das NSU-Trio? Für die Opferfamilien ist das zentral: Kann es sein, dass da draußen noch weitere Helfer und Mittäter frei herumlaufen?
Hinweise dafür gibt es. Rund 100 Kontaktleute des NSU-Trios benennt die Bundesanwaltschaft selber. Von einigen ist nur die bloße Bekanntschaft bekannt. Andere lieferten dem Trio Pässe, stellten Wohnungen zur Verfügung, mieteten Autos an. Waren sie auch bei Taten dabei? Das BKA kann es nicht sicher sagen: Es hat nur von 19 der 100 Personen die DNA in ihrer Datenbank.
Dann gibt es auch diesen Befund: An keinem der NSU-Tatorte fanden sich DNA-Spuren von Mundlos oder Böhnhardt. Nicht bei den zehn Morden, nicht bei den zwei Anschlägen, nicht bei den 15 Raubüberfällen. Weil beide gut vorbereitet und wohl maskiert waren, vermuten Ermittler. Es gibt aber 43 DNA-Spuren aus der letzten Wohnung des NSU und dem letzten Wohnmobil, die bis heute niemandem zugeordnet werden können. Stammen sie von Helfern?
„Die These, dass drei Nazis durchs Land ziehen und isoliert morden, ist nicht mehr tragbar“, sagt auch die Grünen-Obfrau im NSU-Ausschuss, Irene Mihalic, auch sie war früher Polizistin. „Nach unseren Erkenntnissen gab es ein Umfeld, gab es Netzwerke. Auch V-Leute des Verfassungsschutzes spielen hier eine nicht unerhebliche Rolle.“
Ungereimtheiten zu mehreren Tatorten
Tatsächlich gibt es zu mehreren Tatorten Ungereimtheiten. Beim NSU-Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn sahen mehrere Zeugen bis zu sechs Täter, keine der Beschreibungen passte auf Mundlos oder Böhnhardt. In Rostock lag der Tatort, ein Döner-Imbiss, so versteckt zwischen Wohnblöcken, dass selbst Bundesanwältin Greger einräumte, dieser sei für Ortsunkundige eigentlich nicht zu finden.
Bei dem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse, in dem ein NSU-Sprengsatz explodierte, war von außen nicht erkennbar, dass Migranten ihn betrieben. „Getränkeshop Gerd Simon“, stand auf dem Ladenschild. Die Bombe wurde in dem Laden von einem Mann abgelegt, den der Besitzer als blond und langhaarig beschrieb – auch hier keine Ähnlichkeit mit Böhnhardt und Mundlos. Und für den NSU-Mord in Kassel fanden Ermittler eine Skizze der Innenräume des Tatortes, eines Internetcafés. Angefertigt von einem lokalen Ausspäher?
„Der nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden“, hieß es im NSU-Bekennervideo. Wer aber gehörte zu diesem Netzwerk? Es bleibt bis heute ungeklärt.
Klar ist, dass Neonazis aus dem militanten Blood & Honour-Netzwerk dem Jenaer Trio nach dem Untertauchen halfen. Sie besorgten Wohnungen oder Geld, versuchten auch an Waffen zu kommen. Gerade sie gehören zu den schweigsamsten Zeugen im NSU-Prozess. Weil sie enger mit dem Trio verstrickt waren als bekannt?
„Wir schließen nichts aus“
„Wir bemühen uns wirklich“, sagte Bundesanwältin Greger im Untersuchungsausschuss. „Wir schließen nichts aus, wir sind offen.“ Auch beim Verfassungsschutz habe man „keine Beißhemmungen“. Konkrete Anhaltspunkte auf weitere Mittäter oder örtliche Helfer aber gebe es eben nicht. Gegen neun Rechte ermittelt die Bundesanwaltschaft noch, die dem NSU-Trio direkt geholfen haben sollen. Daneben verweist die Behörde auf ein „Strukturermittlungsverfahren“: Alle Hinweise, die zum NSU noch einlaufen, würden dort geprüft. Was aber genau passiere, sei unklar, klagt die Grüne Mihalic: „Ich muss eher feststellen, dass dort wichtige Vorgänge versenkt werden.“
Bis Juli 2015 wurden 112 Zeugen in dem Strukturermittlungsverfahren befragt, darunter drei V-Leute. Drei Durchsuchungen wurden durchgeführt. Seitdem: keine neuen Angaben.
Einer der Zeugen, den die Bundesanwaltschaft befragte, war Lothar Lingen. So jedenfalls lautet sein Deckname. Lingen arbeitete als Referatsleiter beim Bundesverfassungsschutz, als am 11. November 2011 der NSU und seine Taten publik werden. Noch am gleichen Tag ordnete Lingen an, die Ordner von sieben V-Leuten zu schreddern – allesamt aus Thüringen, dem Ursprung des NSU.
Der Fall: Vor fünf Jahren, am 4. November 2011, flog mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus
Alle Teile: online unter www.taz.de/NSU-Serie
Warum? Auch das blieb lange unklar. Ihm seien Löschfristen aufgefallen, behauptete Lingen. Als ihn im Oktober 2014 die Bundesanwaltschaft befragte, räumte Lingen indes ein weiteres Motiv ein: Er habe gehofft, „dass dann die Frage, warum das Bundesamt für Verfassungsschutz von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht“.
Als Nebenkläger Lingen indes ein Jahr später im NSU-Prozess anhören wollten, wiegelte die Bundesanwaltschaft ab, trotz der erfolgten, öffentlich aber noch nicht bekannten Vernehmung: Dass der Verfassungsschützer die Akten bewusst geschreddert habe, sei „entgegen aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ“.
Nicht die einzige Fragwürdigkeit. Auch gegen Jan W., den einstigen Sachsen-Chef von Blood & Honour, ermittelt die Bundesanwaltschaft bis heute. Er soll versucht haben, den Untergetauchten Waffen zu beschaffen. Unterlagen von just diesem Jan W. aber ließen zwei Staatsanwälte der Bundesanwaltschaft 2014 schreddern – darunter ein vierseitiges Notizbuch mit Kontakten und Telefonnummern. Ein Versehen, beteuerte die Bundesanwaltschaft. Die Staatsanwälte hätten den NSU-Bezug von W. nicht gekannt. Aber gut stand die Behörde erneut nicht da.
Zschäpes Brieffreund
Dabei könnte gerade ein Blick auf Blood & Honour und dessen Ableger Combat 18 lohnen. 2000 wurde das Netzwerk verboten, etliche Aktivisten aber sind bis heute aktiv. Im Sommer erst beteiligten sich einige von ihnen an einem Neonazi-Aufmarsch in Dortmund. Mit dabei: Robin S. Er soll einst bei einem Dortmunder Combat- 18-Ableger mitgemischt haben, ist vorbestraft wegen bewaffneten Raubes – und ein treuer Brieffreund von Beate Zschäpe in deren U-Haft.
Oder vor drei Wochen: Im Schweizer Bergdorf Unterwasser trafen sich 5.000 Neonazis zu einem Konzert, dem größten seit Jahren. Die Organisatoren aber kamen aus Thüringen: Rechtsextreme um den Saalfelder Steffen R., auch er bewegte sich im Blood-&-Honour-Umfeld. Die Veranstalter sammelten die Eintrittsgelder, 30 Euro pro Person, nach taz-Informationen auch für ein spezielles Idol: Ralf Wohlleben. Der ist im Münchner NSU-Prozess angeklagt, weil er den Rechtsterroristen die Mordwaffe beschafft haben soll.
Woher kommt diese ungebrochene Unterstützung? Nicht nur Abgeordneten des NSU-Ausschuss sehen hier noch viel Aufklärungsbedarf: Im Juli konfrontierten auch die Opferanwälte im NSU-Prozess Beate Zschäpe mit den bisherigen Leerstellen im Terrorkomplex. Mehr als 300 Fragen stellten sie. Der Bundesanwaltschaft fielen zu all dem Ungeklärten ein: drei Fragen.
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