NSU-Prozess in München: Das Rätsel von Heilbronn
Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter wirft weiter viele Fragen auf. Kann ein überlebender Polizist die Antworten liefern?
Wenn am Donnerstag Richter Manfred Götzl den 75. Verhandlungstag des NSU-Prozesses am Münchner Oberlandesgericht eröffnet, steht er vor der mysteriösesten Tat des mutmaßlichen Neonazi-Trios. Erstmals wird die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn verhandelt. Es war der zehnte und letzte Mord der Rechtsterroristen – und der erste, der nicht Gewerbetreibende türkischer oder griechischer Herkunft traf.
Am Mittag des 25. April 2007 waren Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. bei einer Mittagspause am Rande der Heilbronner Theresienwiese. Von hinten sollen sich die Angreifer an ihren Streifenwagen herangepirscht und unvermittelt geschossen haben. Die 22-jährige Kiesewetter verstarb sofort, ihr Kollege überlebte schwer verletzt. Die Täter raubten noch Dienstwaffen, Magazine und Handschellen und flohen.
Am Donnerstag soll Martin A. nun befragt werden – das einzige NSU-Opfer, das einen gezielten Schusswaffenangriff überlebte. Es wird die erste öffentliche Befragung des 31-Jährigen. A. durchlief lange Therapien, arbeitet wieder im Innendienst, gilt aber bis heute als „hochtraumatisiert“. Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag verzichtete deshalb auf eine Befragung.
Das Gericht in München aber bestand auf eine Vorladung. „Da es sich um einen wesentlichen Tatzeugen handelt, kam ein Verzicht nicht in Frage“, sagte eine Sprecherin. Psychologen bereiteten A. auf den Prozess vor, werden ihn auch ins Gericht begleiten.
Vernehmung unter Hypnose
Offen ist, wie viel Martin A. zur Aufklärung beitragen kann. Achtmal wurde er nach der Tat vernommen, einmal unter Hypnose. Laut Ermittlern ist seine Erinnerung spärlich. A. hatte aber den Täter beschrieben, den er im Rückspiegel gesehen haben will: einen dunkelhaarigen Mann im karierten Kurzarmhemd. Indes: Das Phantombild wurde nie veröffentlicht – es passte nicht zu den Aussagen anderer Zeugen.
Passanten wollten ein bis drei Personen am Tatort gesehen haben, teils mit blutverschmierten Armen oder in ein Auto hastend. Den Ermittlern half das nicht. Ein politisches Motiv, notierten sie 2009, sei „auszuschließen“, weil kein Bekennerschreiben vorlag. Sie verdächtigten eine herumreisende Frau oder eine „Sinti-Sippe“, weil sich DNA-Spuren vom Heilbronn-Mord auch an anderen Tatorten europaweit fanden. Später kam heraus: Die DNA stammte von einer Mitarbeiterin einer Firma, die Wattestäbchen für die Polizei herstellt.
Wie falsch die Ermittler lagen, wissen sie erst am 4. November 2011. Da erschießen sich die mutmaßlichen NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Wohnwagen in Eisenach, dort werden die Dienstwaffen der Polizisten gefunden. In der Wohnung des Trios in Zwickau liegen die Handschellen und Tatwaffen im Brandschutt. In seinem Bekennervideo rühmte sich der NSU mit dem Polizistenmord unter dem Titel „neue Streiche“.
Zufallsopfer oder nicht
Doch es blieben Fragen: Warum sprach ein Onkel Kiesewetters, auch er Polizist, kurz nach der Erschießung von einem Bezug zu „Türkenmorden“ – Jahre bevor dieser Zusammenhang bekannt wurde? Was hat es zu bedeuten, dass ein Kollege Kiesewetters Mitglied eines schwäbischen Ku-Klux-Klan-Ablegers war? Und war die Polizistin wirklich ein „Zufallsopfer“, wie es die Bundesanwaltschaft glaubt? Lebten doch in Kiesewetters Heimatdorf Oberweißbach in Thüringen auch frühere Bekannte der Rechtsterroristen.
Seit März 2013 geht in Baden-Württemberg eine Ermittlergruppe „Umfeld“ den offenen Fragen nach. Die Ergebnisse sollen Mitte Februar vorgestellt werden. Richter Götzl will jetzt mehrere Ermittler, Kollegen und Angehörige der Polizisten laden.
Für Clemens Binninger, zuletzt CDU-Obmann im NSU-Ausschuss, ist der Fall weiter "der mit den meisten Merkwürdigkeiten". Die Erwartungen an die kommenden Prozesstage will er "nicht zu hoch hängen". Binniger plädiert stattdessen für einen NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg. Den aber verweigert die Landesregierung hartnäckig. „Unverständlich“, wie Binninger findet. „Wenn man Klärung will, kann das nur ein Untersuchungsausschuss.“
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